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       # taz.de -- Buch über Identitäre: Ressentiment als Schmerzmittel
       
       > Hass auf Ambivalenz: Ein kluger Sammelband analysiert das Weltverständnis
       > der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreichs.
       
   IMG Bild: Identitärer Kreisverkehr: Immer wieder auf und nieder auf dem Martin-Heidegger-Rundweg
       
       Sie schafften einmal mehr, was ihnen am wichtigsten ist: Aufmerksamkeit
       erregen. Diesmal gibt es aber nichts zu lachen aus ihrer Sicht. Die
       österreichische Zeitung Der Standard [1][berichtete vergangene Woche], dass
       die Staatsanwaltschaft Graz gegen zehn „führende Vertreter“ der sogenannten
       Identitären Bewegung Österreich und sieben weitere „aktive Sympathisanten“
       eine Anklage wegen Verhetzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung,
       teils auch Sachbeschädigung und Nötigung erhoben hat.
       
       Der Ton des Berichts ist kritisch, ohne die journalistische Distanz zu
       verlieren, auch wenn es kein Artikel über eine vermeintlich spektakuläre
       Aktion ist. In der Frage, wie man über diese extrem rechte Gruppierung
       nicht berichten sollte, hat sich etwas getan in den letzten Jahren.
       
       In dem Sammelband „Untergangster des Abendlandes“ – ein Titel, inspiriert
       von dem österreichischen Schriftsteller Karl Kraus, der 1933 die
       aufkommenden Nationalsozialisten so taufte – kritisiert
       Politikwissenschaftlerin Judith Goetz nicht umsonst, dass Journalisten
       mit ihren Berichten Ikonografie und Vokabular der „Identitären“ oftmals
       unkommentiert und unkritisch reproduzierten – und die Gruppe so einerseits
       größer erschienen ließen, als sie ist, zugleich ihre Reichweite erhöhten.
       
       Der Anspruch des Sammelbandes ist es, das Phänomen „Identitäre“ zu
       verstehen und nicht nur zu beschreiben. Das heißt, mehr zu sagen, als das
       Äußerliche wiederzugeben, nämlich dass „Identitäre“ auf linke Symbolik und
       Aktionsformen setzen, popkulturelle Elemente benutzen, sich vorgeblich vom
       historischen Nationalsozialismus abgrenzen. Nicht allein phänomenologischer
       Deskriptivismus, sondern sozialpsychologische, ideologie- und
       kulturkritische sowie politökonomische Perspektiven ziehen die Autoren
       heran, viele sind inspiriert von der Kritischen Theorie der Frankfurter
       Schule.
       
       ## Heidegger und Identitäre
       
       „Verstehen“ heißt auch, das zugrundeliegende Weltverständnis und seine
       Urheber identifizieren. Das Denken der „Identitären“ wurzelt im Gedankengut
       der „Konservativen Revolutionären“ der Weimarer Republik, führt von dem
       italienischen Kulturpessimisten Julius Evola zu Maritn Heidegger, den dann
       später der antiuniversalistische russische Nationalbolschewist Alexander
       Dugin, ein Vorbild der „Identitären“, zitiert. Nicht erst in den „Schwarzen
       Heften“, schon in „Sein und Zeit“ habe Heidegger „tragende Motive einer
       letztlich völkischen Philosophie“ geliefert, schreibt Micha Brumlik. Dass
       „Identitäre“ mit ihrem Heidegger prahlen, liege also nicht nur an ihrem
       Bemühen, sich besonders intellektuell zu inszenieren.
       
       Brumlik zitiert Paragraf 74 von „Sein und Zeit“: „Wenn das schicksalhafte
       Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitssein mit anderen existiert,
       ist sein Geschehen ein Tatgeschehen und bestimmt das Geschick. Damit
       bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.“ Ein Kerngedanke
       ist den Vordenkern gemein: irrationalistisches Ressentiment gegen
       Aufklärung und Moderne, Hass auf das Uneindeutige, Feindschaft gegen jede
       Ambivalenz.
       
       Das Ressentiment ist nicht zufällig. Es dient als Schmerzmittel für das
       geschädigte Individuum der Moderne, ein Rauschmittel gegen die
       Zerrissenheit der vereinzelten Einzelnen in der
       bürgerlich-kapitalistischen, warenförmigen Konkurrenzgesellschaft, ein
       Haschen nach Bedeutung. Der autoritäre Charakter ordnet sich einer größeren
       Sache unter und tritt nach unten, projiziert seine innere Spaltung auf „das
       Andere“, tritt noch fester nach unten. Der Identitätszwang erlaubt es ihm,
       Komplexität zu reduzieren, klarzukommen.
       
       ## Krise der Männlichkeit
       
       Die Analysen des Sammelbandes überzeugen an vielen Stellen, weil die
       Autoren mit einem kritisch-dialektischen Begriff von Moderne analysieren.
       Goetz diskutiert den psychologischen Mehrwert des Identitätszwangs im
       Kontext der Geschlechterverhältnisse. Frauen seien bei den „Identitären“
       wegen ihres vermeintlich liberalen Wahlverhaltens entweder schuld am
       „Untergang des Abendlandes“ oder seine potenzielle Retterinnen, weil sie
       gebären können. In jedem Fall seien sie aber, darauf liegt die Betonung,
       anders als Männer.
       
       Die „Identitären“, argumentiert Rechtsextremismusforscher Heribert
       Schiedel, offenbarten eine Krise der Männlichkeit, die Aufweichung des
       Patriarchats. Er vergleicht sie in diesem Punkt mit Dschihadisten. Beide
       fetischisierten Gewalt, ringten um ihre Männlichkeit, pflegten einen
       Märtyrerkult und imaginierten einen apokalyptischen Endkampf. Doch der
       Muslimhass der „Identitären“, so Schiedel, rühre daher, dass sie die
       Dschihadisten um das beneiden, was ihnen selbst versagt bleibe: freies
       Ausleben zerstörerischer Gelüste, „Erlösung durch Vernichtung“.
       
       Die „Identitären“ werden in diesem Band nicht für sich allein, sondern
       eingebettet in die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen gesehen. Die
       Lesenden lernen über die Rechtsextremen, zugleich über die Widersprüche
       der Gegenwart, deren Produkt jene sind. Ein Zugang, der auch helfen kann,
       den auflebenden parlamentarischen Rechtsextremismus in Europa zu verstehen,
       statt ihn immerzu nur abstrakt zurückzuweisen.
       
       27 May 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://derstandard.at/2000079696115/Anklage-gegen-zehn-fuehrende-Vertreter-der-Identitaeren
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
       ## TAGS
       
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