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       # taz.de -- Die Wahrheit: „Her mit den Männerburkas ab 70!“
       
       > Das Wahrheit-Interview: Der Berliner Gesellschaftskritiker Kurt Scheel
       > fordert eine neue Kleiderverordnung für ältere Herrschaften.
       
   IMG Bild: „Die Altherrenburka wird noch in diesem Sommer kommen“: Gesellschaftskritiker Kurt Scheel
       
       taz: Herr Scheel, Sie verlangen vom deutschen Gesetzgeber eine Burkapflicht
       für Männer ab siebzig … 
       
       Kurt Scheel:Nur in der Öffentlichkeit! Zu Hause mag man meinetwegen nackt
       herumtollen.
       
       Trotzdem ist das Ageism. 
       
       Wie bitte?
       
       Altersdiskriminierung. 
       
       So what? Wenn man zwei Werte gegeneinander abwägt – in diesem Fall das
       Recht auf freie Kleiderwahl für Menschen jeden Alters einerseits und das
       Recht auf staatlichen Schutz vor Augenkrebs andererseits –, dann kann sich
       schon mal herausstellen, dass einer der beiden Werte ein höheres Gewicht
       besitzt. Ich halte es für beklagenswert, dass auch kluge ältere Herren so
       gar kein Gefühl mehr fürs Schickliche haben. In meinem bürgerlichen
       Wilmersdorfer Kiez spaziert die Hälfte der älteren Männer mit kurzen Hosen
       einher, als sei das hier Timmendorfer Strand. Manche tragen auch bauchfreie
       Leibchen. Oje! Deshalb bin ich für Männerburkas ab 70 Jahren.
       
       Und wieso nicht schon ab 60? Oder ab 50? 
       
       Da lasse ich im Zweifelsfall durchaus mit mir reden. Aber irgendwo muss man
       ja eine Grenze ziehen. Besonders schlimm ist es im Supermarkt. Fast jedes
       Mal, wenn ich zerknirscht den Blick senke, um die tätowierten Oberarme der
       Kassiererin nicht sehen zu müssen, habe ich zwei bis vier oder gar sechs
       haarige, bleiche, verdorrte und gut abgehangene Mümmelgreisenwaden vor
       Augen. Und jede Menge nackter, borstiger, verhornter Füße in poppig
       kolorierten Badelatschen.
       
       Dem Soziologen Norbert Elias zufolge sind die Schamstandards in Europa seit
       dem Mittelalter aber erheblich gestiegen … 
       
       Ja, ja, der gute alte Mythos vom Zivilisationsprozess … Nachtigall, ick hör
       dir trapsen! Sehen Sie sich doch einmal um: Sobald das Thermometer
       hierzulande auf mehr als zwanzig Grad Celsius klettert, laufen die Männer –
       und eben leider auch die alten und die uralten Männer! – auf der Straße
       herum, als wären sie auf dem direkten Weg in die Kräutersauna. Im
       Mittelalter hätte man sie dafür aufs Rad geflochten!
       
       Und die halbnackten jüngeren Männer stören Sie weniger? 
       
       Als Gentleman gestehe ich der Jugend eine gewisse Narrenfreiheit zu.
       Anstatt mir also irgendeinen modischen -ism vorzuwerfen, sollten Sie lieber
       anerkennen, dass ich den Begriff der Jugendlichkeit bis zum Alter von 69
       Jahren gelten lasse. Das ist doch geradezu unglaublich großmütig!
       
       Und wie kommen Sie darauf, dass Sie imstande sind, Ihre private
       Gesetzesnovelle, wie Sie in einer Pressemitteilung erklärt haben, „noch
       diesen Sommer durch den Bundestag zu peitschen“? 
       
       Bleiben wir doch sachlich. Es handelt sich nur um eine kleine Erweiterung
       des Paragrafen 118 des Gesetzes für Ordnungswidrigkeiten. Er soll um den
       folgenden Absatz ergänzt werden: „Grob ungehörig handeln Männer ab 70
       Jahren, wenn sie in der Öffentlichkeit keine Burka tragen. Diese
       Ordnungswidrigkeit wird mit einer Geldbuße und im Wiederholungsfall mit
       schwerer Kerkerhaft geahndet.“
       
       Sie sitzen aber nicht im Parlament. 
       
       Wozu leben wir denn im Kapitalismus? Abgeordnete, mein lieber junger
       Freund, kann man kaufen. Außerdem verfüge ich über gute Connections. Ich
       war dreißig Jahre lang OSZE-Wahlbeobachter im Saarland und habe schon dem
       legendären Journalisten Walter Henkels bei der Niederschrift seiner Bücher
       „Adenauers gesammelte Bosheiten“ und „99 Bonner Köpfe“ beratend zur Seite
       gestanden. Ich weiß, wie der Hase läuft.
       
       Der Vorsitzende der Seniorenpartei Graue Panther hat Sie als „geifernden
       kryptofaschistischen Giftzwerg“ bezeichnet … 
       
       Tatsächlich? Ich selbst betrachte mich eher als Homme de Lettres und als
       Zoon politikon im Sinne der aristotelischen Teleologie, falls Sie mir
       folgen können. In schwachen Stunden bin ich freilich auch dazu geneigt,
       mich mit Moses zu vergleichen, der das gelobte Land nicht mehr erblicken
       wird, in dem alle Männer ab siebzig dem Burkazwang unterliegen. Doch im
       Grunde meines Herzens bin ich mir sicher, dass die Altherrenburka noch in
       diesem Sommer kommen wird.
       
       Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Scheel. Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
       
       5 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gerhard Henschel
       
       ## TAGS
       
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