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       # taz.de -- Neuer Klärungsanlauf im Fall Oury Jalloh: Die unendliche Ermittlung
       
       > 13 Jahre nach Oury Jallohs Tod will Sachsen-Anhalts Landtag klären
       > lassen, was wirklich in der Polizeizelle geschah. Es könnte zu spät sein.
       
   IMG Bild: Auch schon wieder 10 Jahre her – Rekonstruktion der Vorgänge in der Dessauer Polizeizelle durch den Brandsachverständigen Klaus Steinbach am 25. April 2008
       
       Berlin taz | Oury Jalloh hat sich nicht selbst getötet. Der Sierra Leoner
       war vor Ausbruch des Feuers am 7. Januar 2005 in einer Dessauer
       Polizeizelle „mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot“. Vermutlich
       sei er mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden. Zu dieser
       Erkenntnis gelangte der Dessauer Staatsanwalt Folker Bittmann im April
       2017, nach zwölf Jahren Ermittlungen. Dann wurde die Sache an die
       Staatsanwaltschaft Halle abgegeben. Die stellte das Verfahren ein.
       
       Wie ist das möglich?
       
       Das ist eine von insgesamt acht Fragen, denen jetzt zwei externe Juristen
       nachgehen sollen. Am kommenden Freitag will die Regierungskoalition aus
       CDU, SPD und Grünen im Landtag von Sachsen-Anhalt sie damit beauftragen.
       
       Einer von ihnen soll der ehemalige Münchner Generalstaatsanwalt Manfred
       Nötzel sein, ein konservativer Jurist. Der zweite Jurist ist der in München
       lebende Jerzy Montag. Er war elf Jahre lang rechtspolitischer Sprecher der
       Grünen im Bundestag.
       
       ## Zwei Ermittler mit Erfahrung
       
       Nötzel und Montag sollen die Funktion von Sonderermittlern einnehmen, aber
       nicht diese Bezeichnung erhalten, darauf legt die CDU Wert. Offenbar
       fürchtet man, dies könnte als Zeichen des Misstrauens gegenüber der Justiz
       gewertet werden. Deshalb ist von „Beratern“ die Rede. Nötzel und Montag
       sollen den Rechtsausschuss des Landtags dabei unterstützen, die
       Jalloh-Akten zu begutachten. Der Ausschuss hatte die Papiere Ende November
       2017 von der Justiz angefordert, nach dem bekannt geworden war, dass der
       Dessauer Staatsanwalt Bittmann von einem Mord an Jalloh ausgeht, seine
       Kollegen in Halle das Verfahren aber trotzdem eingestellt haben.
       
       Im Februar 2018 kamen die Akten in der Geheimschutzstelle des Landtags in
       Magdeburg an. Der Raum ist klein, etwa zwölf Quadratmeter. Darin steht ein
       Schreibtisch für die Aufsicht führende Geheimschutzbeauftragte. In Regalen
       an einer Wand liegen die Akten. Lesen dürfen diese nur die 14 Mitglieder
       des Rechtsausschusses sowie eine Referentin pro Fraktion. Sie dürfen
       Mitschriften machen, aber keine Kopien oder Fotos.
       
       Obwohl Nötzel und Montag offiziell nur „unterstützen“ sollen, ist ihr
       Untersuchungsauftrag umfassend. Das zeigt sich an den Fragestellungen: Gibt
       es noch offene Ermittlungsansätze? Wurden die Behörden bei den Ermittlungen
       beeinflusst? Wurden die Beweismittel sicher gelagert? Existieren
       Unstimmigkeiten bei den Ermittlungsverfahren? Wurden die Erkenntnisse der
       Gerichtsverfahren bei weiteren Ermittlungen ausreichend berücksichtigt? War
       es „rechtlich und fachlich nachvollziehbar“, dass das Verfahren von Dessau
       nach Halle abgegeben wurde? Und vor allem: War es gerechtfertigt, dass dort
       das Verfahren kurz darauf eingestellt wurde?
       
       Montag und Nötzel sind renommierte Juristen mit viel Erfahrung: Nötzel ist
       mit spektakulären Verfahren gegen Wirtschaftsgrößen wie den früheren
       Deutsche-Bank-Chef Jürgen Fitschen oder den Formel-1-Boss Bernie Ecclestone
       bekannt geworden. Montag untersuchte im Auftrag des Parlamentarischen
       Kontrollgremiums des Bundestags die Vorgänge um den 2014 gestorbenen
       Neonazi Thomas Richter, der unter dem Decknamen „Corelli“ als V-Mann für
       den Verfassungsschutz tätig gewesen war. Was Montag dazu herausfand, ist
       allerdings teilweise geheim – nur das Parlamentarische Kontrollgremium
       durfte seinen vollständigen Bericht lesen.
       
       ## Landtag wollte keinen Untersuchungsausschuss
       
       Ist damit nun also getan, was nötig wäre, um den Fall Jalloh endlich
       aufzuklären? Das sehen keineswegs alle so. Letztlich geht es darum,
       mögliche Täter vor Gericht zu stellen. Genau dafür aber läuft die Zeit ab,
       sagen Kritiker. Die Beauftragung von Montag und Nötzel könnte den
       möglicherweise entscheidenden Druck aus der Sache nehmen, befürchten sie.
       
       Im Oktober 2017 stellte die Staatsanwaltschaft Halle das Verfahren ein. Sie
       bewerte die entscheidenden Gutachten „eben anders“ als die Kollegen in
       Dessau, erklärte eine Vertreterin gegenüber der taz. Über 120.000 Menschen
       unterschrieben danach eine Petition für „lückenlose Aufklärung“.
       Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) wies deshalb Ende 2017 die
       Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg an, den Fall an sich zu ziehen. Diese
       möge den „Konflikt“ zwischen den Ansichten der Ermittler im Halle und
       Dessau „durch eine eigenständige und gegebenenfalls durch weitere
       Ermittlungen gestützte Bewertung der Geschehnisse“ klären. Diese
       Ermittlungen dürften in den nächsten drei Monaten abgeschlossen sein,
       darauf deutet die Äußerung eines Staatsanwalts bei einer Anhörung im
       Landtag hin.
       
       Um zu verhindern, dass der Aktendeckel zugeklappt wird, hatte die
       Linken-Abgeordnete Henriette Quade im Februar die Einrichtung eines
       parlamentarischen Untersuchungsausschusses vorgeschlagen. „Es reicht nicht
       aus, auf die Prüfung durch den Generalstaatsanwalt zu setzen“, sagte Quade.
       Der Untersuchungsausschuss hätte der Reihe nach alle Zeugen vorladen und
       somit die Widersprüche der zurückliegenden Gerichtsverfahren für die
       Öffentlichkeit noch einmal nachvollziehbar machen können. Die Naumburger
       Staatsanwaltschaft könnte, so die Vermutung, während der laufenden Arbeit
       eines solchen Ausschusses das Verfahren kaum einstellen.
       
       Doch für einen solchen Ausschuss müssten mindestens ein Viertel der 87
       Abgeordneten votieren – also 22. Die Linken haben 16. Wenigstens die 5
       Grünen und einer der elf SPDler müsste zustimmen. Doch beide sind Teil der
       Regierungskoalition – und haben sich dagegen entschieden.
       
       „Aufgrund des sehr umfangreichen Aktenmaterials haben sich die
       Koalitionsfraktionen verständigt, externe juristische Berater – keine
       Sonderermittler – hinzuzuziehen“, sagt Jens Kolze, der rechtspolitische
       Sprecher der CDU-Fraktion. „Einen Untersuchungsausschuss ziehen wir daher
       nicht in Betracht.“ Sebastian Striegel, rechtspolitischer Sprecher der
       Grünen, will vor dem Freitag gar nichts sagen, um die Einigung mit der CDU
       nicht zu gefährden. „Wir haben uns auf dieses Verfahren geeinigt“, sagt die
       SPD-Abgeordnete Silke Schindler. „Wenn es nach der Inaugenscheinnahme
       Anhaltspunkte gibt, die für einen Untersuchungsausschuss sprechen, werden
       wir das verhandeln. An diesem Punkt sehe ich das nicht“, so Schindler.
       
       ## Furcht vor einer Einstellung der Ermittlungen
       
       Damit ist folgendes Szenario wahrscheinlich: Vor dem nächsten Jahr wird
       wohl nicht mit einem Bericht von Nötzel und Montag zu rechnen sein. Bis
       dahin wird von dem Fall öffentlich kaum mehr etwas zu hören sein. Das
       staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren könnte so ohne große Aufregung
       eingestellt werden. Sollte dies dann zu einem späteren Zeitpunkt kritisch
       von Nötzel und Montag gewürdigt werden, wäre die Aussicht auf eine
       Wiederaufnahme und eine Anklage der Täter gering.
       
       Dass das Verfahren in Naumburg beendet sein könnte, bevor das Duo Montag
       und Nötzel ihre Arbeit abschließen, sei „überhaupt kein Nachteil“, sagt
       Montag dazu. „Wir haben mit dem justiziellen Verfahren gar nichts zu tun,
       so ist das System der Gewaltenteilung.“ Der Landtag könne die beiden „nur
       insoweit beauftragen, als er selbst handeln kann. Die Justiz ist frei und
       unabhängig und wir können ihre Entscheidungen auch nicht überprüfen.“
       Sollten die Ermittler allerdings zu dem Ergebnis kommen, dass Erkenntnisse
       von der Justiz unberücksichtigt geblieben sind, nachdem diese das Verfahren
       beendet hat, hätte das „keine unmittelbaren Konsequenzen“ mehr, räumt
       Montag ein.
       
       Ob ein Untersuchungsausschuss die bessere Lösung gewesen wäre, sei eine
       Frage „der Willensbildung im Parlament, dazu werde ich mich nicht äußern“,
       sagt er. Ob der Bericht, den Montag und Nötzel schreiben, der
       Öffentlichkeit zugänglich sein wird? „Wir stellen den Bericht unserem
       Auftraggeber, dem Landtag, zur Verfügung. Was der damit macht, ist seine
       Sache. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass der Landtag den Bericht
       nicht veröffentlicht“, sagt Montag.
       
       „Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss hätte Naumburg unter Druck
       gesetzt“, argumentiert Nadine Saeed von der Initiative Gedenken an Oury
       Jalloh. „Der wäre viel breiter, und vor allem öffentlich, angelegt gewesen
       als die Arbeit der beiden externen Ermittler.“ Mit der Einsetzung der
       beiden Berater habe der Landtag „den Untersuchungsausschuss abgewehrt“.
       
       Die Initiative hatte im vergangenen Dezember Strafanzeige wegen Mordes
       gegen den ehemaligen Polizeibeamten Udo S. gestellt – und zwar gleich beim
       Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Doch der lehnte es ab, sich mit dem Fall
       Oury Jalloh zu befassen. Dieser sei nicht „geeignet, die
       Staatsschutzbelange, namentlich die innere Sicherheit und das Vertrauen der
       Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit des Staates, ernsthaft zu
       beeinträchtigen“, erklärte die oberste Ermittlungsbehörde.
       
       ## Anwältin rügt den Aufklärungsauftrag
       
       Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die die Familie Jallohs als
       Nebenklägerin vertritt, hält den Auftrag für Nötzel und Montag nicht für
       überzeugend. Die Beschlussvorlage mit den Untersuchungsfragen „finde ich
       einigermaßen beliebig“, sagt sie. Es fehle die Zuspitzung auf die beiden
       Kernfragen: das Feuerzeug und die rechtsmedizinische Einschätzung der
       Überlebenszeit nach Zündung des Brandes. Im Laufe des Verfahrens war
       herausgekommen, dass der als Beweisstück gesicherte, verschmorte
       Feuerzeugrest nie in der Zelle gewesen sein kann.
       
       Für Heinecke sind das die wichtigsten Indizien für eine Täterschaft
       Dritter. Auch sie fürchtet, dass die Naumburger Staatsanwälte das Verfahren
       demnächst einstellen. „Danach bleibt nur der Antrag auf Erzwingung der
       Klage beim Oberlandesgericht Naumburg“, sagt Heinecke. Welche Aussichten
       auf Erfolg das hat, ist völlig offen.
       
       7 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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