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       # taz.de -- Türkische Sängerin Bülent Ersoy wird 66: Die ewige Diva
       
       > Bülent Ersoy ist eine der beliebtesten Sänger*innen der Türkei – und
       > trans. In den letzten Jahren erregte ihre Nähe zu Erdoğan Aufsehen.
       
   IMG Bild: Die Kameras lieben sie, sie liebt die Kameras: Bülent Ersoy bei einem Pressetermin in den 1990ern
       
       Bülent Ersoy nimmt im Leben so ziemlich jeder trans Person in der Türkei
       einen besonderen Platz ein. So auch in meinem. Ich erinnere mich noch, wie
       ich als Kind vor dem Fernseher saß und dachte: „Mein Gott, auf dieser Welt
       gibt es nur mich und Bülent Ersoy.“ Ihre Präsenz sorgte dafür, dass ich
       mich weniger allein fühlte. Denn die Sängerin ist nicht nur die erste trans
       Frau, die es in die türkische Öffentlichkeit geschafft hat. Sie ist bis
       heute eine der erfolgreichsten und beliebtesten Performer*innen des Landes.
       
       Mit ihrer unvergleichlichen Stimmgewalt, ihren glamourösen Kostümen, ihren
       stets wesentlich jüngeren Ehemännern, ihren öffentlichen Streitereien und
       ihren kontroversen Aussagen gehört Bülent Ersoy seit den 80er Jahren zu den
       meistdiskutierten Celebrities in den türkischen Medien.
       
       Die von ihren Fans liebevoll „Diva“ genannte Sängerin, die nach dem
       Militärputsch von 1980 einige Jahre im Exil verbringen musste, stand für
       mich persönlich immer auch für den Widerstand gegen ein faschistisches
       Regime und ihren unaufhörlichen Kampf für die Anerkennung ihrer trans
       Identität. Und so bin ich wie viele andere Bülent-Ersoy-Fans in der Türkei
       doch sehr verwundert darüber, wie treu sich Bülent Ersoy gerade in den
       letzten Jahren dem Erdoğan-Regime gegenüber zeigt. Aber der Reihe nach.
       
       Bülent Ersoy ist 1952 im südosttürkischen Malatya geboren und wächst als
       Kind einer Bankerfamilie in Istanbul auf. Anfang der 70er Jahre erscheinen
       ihre ersten Platten, und Ersoy beginnt live aufzutreten, etwa im legendären
       Maksim Gazinosu am Taksim. Ersoy singt türkische Kunstmusik, die sehr stark
       von der klassischen arabischen Musik beeinflusst ist. Wie viele populäre
       Sänger*innen ihrer Zeit dreht Ersoy auch Musikfilme, wird jedoch anfangs
       noch mit Cis-Männerrollen besetzt.
       
       ## Bülent Ersoy verbringt 19 Tage in Haft
       
       Das ändert sich erst im Sommer 1980, mit einem Auftritt, der sich quasi als
       Ersoys landesweites Coming-out lesen lässt. Nachdem die Sängerin bei einem
       Konzert in Izmir in der Euphorie des Beifalls ihre neuen Silikonbrüste
       entblößt hat, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen sie wegen
       „unmoralischen Verhaltens“. Anschließend beschimpft Ersoy den Richter und
       wird festgenommen. 19 Tage verbringt sie in Haft. Ihr Film „Şöhretin Sonu“
       (zu Deutsch: „Das Ende des Ruhms“) von 1981 basiert lose auf diesen
       Ereignissen.
       
       Im September 1980 dann ereignet sich der blutige Militärputsch in der
       Türkei. Das gesellschaftliche Leben wird von nun an von Verboten und
       Gewalt dominiert. LGBTIQ*-Personen werden systematisch gefoltert,
       vergewaltigt und massakriert. Wie viele trans Personen in dieser Zeit vom
       Militär ermordet wurden, lässt sich nicht mehr zurückverfolgen, da es keine
       offiziellen Erhebungen gegeben hat. Wir wissen jedoch: es waren viele.
       
       Auch Bülent Ersoy darf per Gesetz nicht mehr auftreten. Zumindest nicht in
       „Frauenkleidern“. Ersoy, zu diesem Zeitpunkt bereits eine populäre
       Künstlerin, ist privilegiert genug, das Land verlassen zu können. Sie reist
       nach Europa und unterzieht sich in London einer Reihe von
       geschlechtsangleichenden Maßnahmen. Anschließend zieht die Sängerin nach
       Westdeutschland, wo sie acht Jahre im Exil verbringen wird.
       
       In dieser Zeit gibt Ersoy überall auf der Welt Konzerte. Sie spielt etwa im
       L’Olympia in Paris, wo sie die französische Presse um ein Statement zu dem
       Auftrittsverbot in der Türkei bittet. „Das ist eine Sache zwischen mir und
       meinem Land, das geht Sie nichts an“, lautet Ersoys viel zitierte Antwort
       darauf. Ersoy wird während ihrer gesamten Karriere nie einen Hehl aus ihrem
       Nationalismus machen. So kehrt sie auch unmittelbar nach Ende der
       Militärregierung 1988 auf Wunsch der neuen First Lady Semra Özal in die
       Türkei zurück. Ersoy darf wieder auftreten und erhält endlich einen
       korrekten Personalausweis – mit dem Vermerk „Geschlecht: Frau“.
       
       ## Ersoy gegen Einsatz des türkischen Militärs
       
       Mit ihrer Rückkehr werden trans Personen zum gesellschaftlichen Thema in
       der Türkei. Und auch der Demokratisierungsprozess verändert das Land
       scheinbar schlagartig. Universitäten werden eröffnet, Straßen werden
       asphaltiert, es entstehen zahlreiche neue Jobs. Die explizit transphoben
       Gesetze der Militärregierung existieren zwar nicht mehr, doch ändert das
       nichts an der ihnen zugrunde liegenden Mentalität. Polizeigewalt ist für
       viele trans Personen bis heute Teil ihres Alltags geblieben.
       
       Und was ist mit Bülent Ersoy? Sie fokussiert sich auf ihre Karriere und
       ist zur ewigen Diva des Landes geworden. Alle lieben sie, alle hören ihre
       Musik, ganz unabhängig von Alter, Herkunft, politischer Einstellung. Doch
       die queere Szene hadert mit Ersoy. Bis heute lebt die Sängerin ein recht
       isoliertes Leben, fernab von LGBTIQ*-Organisationen und politischen
       Kämpfen. Sie setzt sich weder für die Rechte von trans Personen ein, noch
       thematisiert sie ihre eigenen Erfahrungen als trans Frau öffentlich.
       
       Ersoys Wohltätigkeiten beschränken sich auf den Verein für
       Kriegsheimkehrer*innen und Hinterbliebene von Kriegsgefallenen, dem sie
       seit Jahrzehnten einen Großteil ihrer Konzertgagen spendet. Für einen
       Skandal sorgt Ersoy 2008, als sie bei einer Castingshow, wo sie Jurorin
       ist, den Einsatz des türkischen Militärs im Nordirak kritisiert: „Hätte ich
       Kinder, ich würde keines von ihnen zur Armee schicken. Nur weil
       irgendwelche Menschen an ihrem Schreibtisch falsche Entscheidungen treffen,
       soll ich mein Kind beerdigen? Wie kann das sein?“
       
       Es folgt eine Medienkampagne gegen Ersoy, die Staatsanwaltschaft ermittelt
       gegen sie. Doch schließlich wird Ersoy freigesprochen, weil ihre Äußerung
       unter die Meinungsfreiheit fällt. Dann vor zwei Jahren ein neuer Skandal.
       Nach den umfassenden Versammlungsverboten, die auf die Gezi-Proteste in
       Istanbul von 2013 folgten, wurde auch der Gay-Pride-Marsch in Istanbul
       mehrmals verboten. Als 2016 dennoch eine Gruppe von Demonstrant*innen zum
       Gay Pride aufmarschiert, wird sie von der Polizei mithilfe von Tränengas
       und Plastikgeschossen auseinandergetrieben.
       
       ## Konservativer Staatsführer am Tisch einer trans Frau
       
       Am selben Tag gibt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan anlässlich
       des Ramadan ein Abendessen in seinem Palast in Ankara. Unter den Gästen:
       Bülent Ersoy. Es kommt zum medialen Eklat. Selbst der Guardian druckt ein
       Foto von Erdoğan und Ersoy, die gemeinsam an einem Tisch sitzen an
       ebenjenem Tag, an dem trans Frauen von der Polizei auf der Straße
       verprügelt werden.
       
       Türkische Linke wiederum, wie der Kolumnist und Theatermacher Orhan Aydın,
       setzten auf homophobe Sprache, um Ersoy politisch zu diskreditieren: „So
       etwas machen eben nur Schwuchteln!“, twittert er. Aussagen wie diese sind
       übrigens sehr bezeichnend für das gesellschaftliche Klima, in dem Ersoy
       eine beachtliche Karriere gemacht hat.
       
       Und ja, auch wir trans Frauen haben Ersoy heftig dafür kritisiert, dass
       sie sich an Erdoğans Tisch gesetzt hat. Aber da war eben noch etwas
       anderes. Die Möglichkeit, dass nicht Ersoy sich an Erdoğans Tisch gesetzt
       hat, sondern umgekehrt: Erdoğan saß an Ersoys Tisch. Ein konservativer
       Staatsführer am Tisch einer trans Frau, wo es doch so viele andere Tische
       und Gäste gab. Ein solches Bild haben wir in der Türkei noch nie gesehen.
       Am 9. Juni wird Bülent Ersoy 66 Jahre alt. Happy birthday, Diva!
       
       Übersetzt aus dem Türkischen von Fatma Aydemir
       
       8 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michelle Demishevich
       
       ## TAGS
       
   DIR Trans-Community
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
   DIR Lost in Trans*lation
   DIR Türkei
   DIR taz.gazete
       
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