URI: 
       # taz.de -- Kommentar Chabad-Bewegung: Bewahrer des jüdischen Erbes
       
       > Es ist gut, dass die neo-chassidische Bewegung Chabad Lubawitsch in
       > Jüdischen Gemeinden wie denen in Hamburg und Berlin aktiv ist.
       
   IMG Bild: Rabbiner bei der Ordination von fünf Rabbinern am 23. Mai 2018 in Hamburg. Ausgebildet wurden letztere am Rabbinerseminar von Chabad Lubowitsch
       
       Von dem erzkonservativen, seit langem verstorbenen israelischen Rabbiner
       Israel Schach, er gründete die Partei Degel ha Tora (Banner der Tora), wird
       folgende Sottise überliefert: „Which religion is next to Judaism?“, eine
       Frage, die er sich selbst so beantwortete: „Lubawitsch… – efscher.“ Für
       alle, die kein Hebräisch verstehen: „efscher“ heißt nichts anderes als
       „möglicherweise“.
       
       Die derzeit in Hamburg Aufsehen erregende und seit langem weltweit
       agierende neochassidische Bewegung „Chabad Lubawitsch“ hat mein Interesse
       schon vor mehr als dreißig Jahren auf sich gezogen. „Chassidismus“, das war
       eine im 18. Jahrhundert in Ostmitteleuropa entstandene Bewegung, die gegen
       ein Judentum, das vor allem an Gelehrsamkeit und Textauslegung orientiert
       war, auf ekstatische Herzensfrömmigkeit und charismatische
       Führungspersönlichkeiten setzte.
       
       Die von Salman Schneur von Ljadi ebenfalls im 18. Jahrhundert als Reaktion
       hierauf gegründete Chabad-Bewegung suchte nach einer Verbindung von beiden:
       Sie setzte auf Weisheit („Khokhma“), Verstand („Binah“) sowie auf Glauben
       („Daat“). Zunächst nur eine unter mehreren chassidischen Sekten, gewann sie
       vor allem durch ihren letzten „Rebben“, Menachem Mendel Schneerson
       (1902-1994), dem es 1940 gelang, aus Paris nach New York zu fliehen,
       Einfluss und Ansehen unter Juden in aller Welt – forderte aber auch Kritik
       und Widerstand heraus. Nicht zuletzt deshalb, weil die Anhänger des Rebben
       auch noch lange nach dessen Tode wähnten, er sei der verheißene Erlöser der
       Welt, der Messias.
       
       Ein 2004/2005 publizierter Kalender der Chabad-Bewegung zeigt eine
       Fotografie von Rabbi Menachem M. Schneerson, der 1992 in Brooklyn
       hochbetagt und kinderlos verstorben war. Der kursiv gedruckte Begleittext
       zu dem Bild endet mit einem Bekenntnis: „Der Mut, die Kraft und das Vorbild
       des Rebben inspirieren noch heute die weltweite Arbeit von Chabad. Das ist
       keine Bezeugung zu seinem Gedenken, sondern ein dynamischer Ausdruck seines
       lebendigen, fortwirkenden Vermächtnisses. Dieses Vermächtnis drängt uns
       vorwärts. Wir arbeiten für eine Welt, in der ewiger Frieden herrscht, für
       eine Welt großartigen Wissens und der Fülle – für den Tag, an dem der
       Moschiach sich uns offenbart.“
       
       ## Fülle religionssoziologischer Studien
       
       Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Die Arbeit von Lubawitsch
       ist demnach nicht erfolgreich, weil man des Rebben gedenkt, sondern
       deshalb, weil diese Arbeit Ausdruck seines „lebendigen, fortwirkenden
       Vermächtnisses“ ist. Mit anderen Worten: So wie nach dem Glauben, nicht nur
       der frühen Kirche, der Geist Jesu in ihr fortwirkt und sie trägt, wirken
       die Tugenden des Rebben „lebendig“ in der Gemeinde der Lubawitscher nach,
       kurz: Er selbst – nicht etwa Gott – trägt diese jüdische Gemeinschaft.
       
       Soll er also doch der Messias sein? Offiziell nicht mehr. Um was für eine
       Bewegung handelt es sich also?
       
       Inzwischen liegen eine Fülle religionssoziologischer Studien vor. Sue
       Fishkoffs erstmals 2003 publiziertes Buch „ The Rebbes Army – Inside the
       World of Chabad – Lubavitch“ enthält Reportagen sowie eine wohl
       dokumentierte Historiographie; das Buch weist nach, mit welch modernen
       Mitteln, aber vor allem mit welcher Einsatzbereitschaft die Mitglieder der
       Bewegung – oft junge Ehepaare – den Versuch unternehmen, Jüdinnen und Juden
       von Kathmandu bis Hamburg, das jüdische Erbe niedrigschwellig zu
       vermitteln. Als Wahlspruch dieser Anstrengungen kann gelten: „No Jew will
       be left behind“. Eine – wenn man so will – jüdische Form der inneren
       Mission! Die Emissäre der Bewegung – „Schluchim“ (man könnte dies auch mit
       „Apostel“ übersetzen) – werben nach außen hin ohne Druck und ohne
       Sanktionen bei Jüdinnen und Juden dafür, sich ihrem religiös-kulturellen
       Erbe anzunähern.
       
       ## Untersuchungen zum Leben des Charismatikers Schneerson
       
       Zudem liegen seit längerem präzise Untersuchungen zum Leben des 1994
       verstorbenen Charismatikers Schneerson vor. Zuletzt, 2015, publizierte
       Joseph Telushkin sein umfängliches Buch „Rebbe. The Life and Teachings of
       Menachem M. Schneerson“, 2011 bereits erschien die Monographie „Open
       Secret“ des bekannten Kabbalaforschers Elliott R. Wolfson, 2010 die von dem
       Religionssoziologen Samuel Heilman zusammen mit Menachem Friedman verfasste
       Biographie „The Rebbe“. Diesen sorgfältigen Studien lässt sich entnehmen,
       dass Schneerson selbst nie daran glaubte, der Messias zu sein, es aber
       zuließ, dass seine Anhänger das glaubten.
       
       In der bisherigen Hamburger Debatte ging es aber eher um den Verdacht eines
       politisch rechts stehenden Fundamentalismus. Also: Unterstützt Chabad
       Lubawitsch theologisch, politisch und finanziell die rechtsradikalen,
       fundamentalistischen Siedler im Westjordanland?
       
       Theologisch gewiss nicht: Zwar darf nach dieser Lehre, wer einmal seinen
       Fuß auf das Land Israel gesetzt hat, es nie mehr verlassen – weswegen der
       Rebbe selbst niemals Israel besucht hat; ansonsten geht es der Bewegung
       geradezu emphatisch darum, jedes Land so heilig zu machen wie das Land
       Israel. Es ist daher mehr als ein Zufall, dass der Vorhang vor dem
       Toraschrein der Berliner Synagoge das Brandenburger Tor zeigt, aus dem zwei
       Torarollen herausragen.
       
       ## Besetzung aus politischen Gründen unterstützt
       
       Politisch allerdings unterstützt die Bewegung die Besetzung und Besiedlung
       des Westjordanlandes – wenn auch nur aus „Sicherheitsgründen“. Menachem
       Mendel Schneerson lehrte 1997: „Yes, the land is holy, and yes, there are
       people who love it, but the reason the land should not be returned is not
       his holiness or this love. Instead, this is a life-threatening issue…“ Das
       aber ist eine sicherheitspolitische, keine religiös-fundamentalistische
       Begründung, die man ablehnen mag, die aber auch der größte Teil säkular
       gesonnener jüdischer Israelis sowie viele liberale, konfessionelle Jüdinnen
       und Juden akzeptieren.
       
       So bleibt das Problem, ob Chabad in Deutschland ein eigenes Rabbinerseminar
       eröffnen darf – eine Frage, die für die Öffentlichkeit ungefähr so brisant
       und relevant ist wie die Frage, ob Altkatholiken eigene Priester ausbilden
       dürfen, die eine oder andere neue Freikirche gegründet wird beziehungsweise
       die Aleviten als Körperschaft des öffentlichen Rechts staatlich anerkannt
       werden.
       
       ## Ungleichbehandlung von Frauen
       
       Sehr viel erheblicher ist – bei Chabad ebenso wie bei der restlichen
       Orthodoxie – die Problematik der Ungleichbehandlung von Frauen im
       liturgischen Bereich sowie vor allem im Eherecht: So haben im ganzen
       orthodoxen Judentum nur Männer das Recht, eine Scheidung einzureichen. In
       diesen eherechtlichen und liturgischen Fragen unterscheidet sich Chabad
       Lubawitsch in keiner Weise von der konventionellen Orthodoxie, ja noch
       nicht einmal von manchen liberalen Synagogen, die zum Teil ebenfalls darauf
       beharren, dass Männer und Frauen beim Gebet getrennt sitzen und Frauen
       nicht aus der Tora lesen dürfen.
       
       Ich persönlich kann hingegen nur die Erfahrung beisteuern, dass ich bei der
       Bat Mitzvah der Tochter des Berliner Rabbiners von Chabad in der Synagoge
       zwischen zwei Frauen saß und wir gemeinsam dem Vortrag des zwölfjährigen
       Mädchens lauschten, das direkt vor dem Toraschrein stand.
       
       Zudem: Im Sozial- und Bildungsbereich spielen Frauen bei Chabad seit Jahren
       eine immer größere Rolle. So zeigt etwa die weltweite Zusammenkunft
       weiblicher Emissäre der Bewegung im vergangenen Jahr ein Ausmaß an
       Aktivismus und Engagement, das seinesgleichen sucht. Wer mag, kann sich
       davon bei Youtube überzeugen. Die theologisch-mystischen Hintergründe
       dieser Aktivierung lassen sich in der Studie des Kabbalaforschers Wolfson
       nachlesen.
       
       ## Bewahrung und Belebung des jüdischen Erbes
       
       Auch ich bedauere, dass Frauen bei Chabad keine volle liturgische
       Gleichberechtigung besitzen sowie noch immer im Eherecht benachteiligt
       sind. Indes: In der sehr viel größeren katholischen Kirche hat man sich
       daran, dass Frauen keine PriesterInnen werden können, gewöhnt. Gemessen
       daran ist die sich in dieser Hinsicht allmählich modernisierende Bewegung
       Chabad in kurzer Zeit deutlich weiter gekommen.
       
       Schließlich: Mindestens was die Bewahrung und Belebung des jüdischen Erbes
       in Russland und in Deutschland – nicht zuletzt unter aus der Sowjetunion
       stammenden Immigranten – betrifft, steht fest, dass Chabad unersetzbar ist.
       Ob es dazu nötig war, dass sich der Chabad Oberrabbiner von Russland, Berel
       Lazar, dem diktatorialen Präsidenten Wladimir Putin andiente, ist eine
       andere Frage. Aber immerhin: Der staatlich-politisch-theologische
       Antisemitismus in Russland mag dadurch vermindert worden sein, und die
       jüdischen Immigranten in Deutschland haben verstanden, was Judentum sein
       kann.
       
       30 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
       
       ## TAGS
       
   DIR Jüdisches Leben
   DIR Judentum
   DIR katholisch
   DIR Rabbiner
   DIR Judentum
   DIR Orthodoxe Juden
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ursprung von Fronleichnam: Frauen, glaubt an eure Visionen!
       
       Ohne die Visionen der heiligen Juliana von Lüttich gäbe es Fronleichnam
       nicht. Die Kirche sollte auch heute wieder öfter auf Frauen hören.
       
   DIR Wolfgang Seibert über Chabad-Bewegung: „Uns war klar, dass sie missionieren“
       
       Dem Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pinneberg bereitet der wachsende
       Einfluss der orthodoxen Chabad-Bewegung Unbehagen.
       
   DIR Schelte für taz-Text: Die falsche Sprache benutzt
       
       Ein Artikel über die Ordination gleich mehrerer Rabbiner in Hamburg, der
       ersten in der Stadt seit der Schoah, bringt der taz Kritik ein –
       verständlich.
       
   DIR Shlomo Bistritzky über orthodoxes Judentum: "Mir kommt der Glaube an Gott plausibel vor"
       
       Rabbi Shlomo Bistritzky, der in Hamburg die konservativen Lubawitscher
       Juden vertritt, plädiert dafür, die Gesetze der Tora genau zu befolgen.
       Alles andere sei eine Gefahr für das Judentum.
       
   DIR Namensstreit: Keine Mehrheit für den Rebben
       
       Die CDU in Charlottenburg-Wilmersdorf findet keine Unterstützer für ihren
       Antrag, eine Wendeschleife in Wilmersdorf nach einem ultraorthodoxen
       Rabbiner zu benennen. Eine Ausschuss-Sitzung offenbart tiefe Konflikte in
       der Jüdischen Gemeinde.
       
   DIR Religiöse auf dem Vormarsch: Das Lächeln des Rabbi
       
       Shlomo Bistritzky wird am Montag neuer Landesrabbiner der Jüdischen
       Gemeinde in Hamburg. Er gehört der umstrittenen religiös-orthodoxen
       Chabad-Bewegung an.