URI: 
       # taz.de -- Gedenken an NS-Opfer: In Serbien war Schluss
       
       > Heinz Cassirer fiel nach fast zweijähriger Flucht durch Europa doch den
       > Nazis zum Opfer. Nun werden Stolpersteine für ihn und seine Eltern
       > verlegt.
       
   IMG Bild: Das letzte Bild von Heinz Cassirer (M.) und seinen Eltern, aufgenommen am 17. November 1939
       
       Das Haus in der Gustav-Freytag-Straße 7 in Schöneberg beherbergte im
       Erdgeschoss einmal einen Buchladen. Geleitet wurde der von Alice und Arthur
       Cassirer, die praktischerweise im selben Haus wohnten, im 3. Stock. Dann
       waren da noch ihre Kinder Gertrud und Heinz, geboren 1919 und 1918. Von
       Heinz wissen wir, dass er sehr gerne Bücher las und Mitglied eines
       Rudervereins in Wannsee war, dem schon seine Eltern angehört hatten.
       
       Nur Gertrud hat den Holocaust überlebt. Sie emigrierte im August 1939 nach
       Lateinamerika und ist im Februar 2010 verstorben. Alice, Arthur und Heinz
       Cassirer gelang die Flucht nicht.
       
       An diesem Samstag um 10.30 Uhr werden in Erinnerung an die drei Berliner
       Stolpersteine vor dem Haus Gustav-Freytag-Straße 7 verlegt. Ein Verwandter
       der Cassirers wird sprechen, der in diesem Text nicht mit seinem richtigen
       Namen genannt werden möchte, aus Furcht vor antisemitischen Übergriffen.
       Deutschland im Jahr 2018. Nennen wir ihn Thomas Heilbronn.
       
       Alice und Arthur Cassirer, Jahrgang 1893 und 1891, verloren 1937 ihren
       Buchladen, der „arisiert“ wurde. Ende 1938, nach der Pogromnacht, kam
       Arthur für Wochen ins KZ Sachsenhausen, so wie rund 20.000 andere jüdische
       Männer. Später musste er in Berlin Zwangsarbeit leisten. Alice und Arthur
       sind am 19. Februar 1943 mit dem „29. Ost-Transport“ nach Auschwitz
       deportiert worden. An welchem Tag sie dort ermordet wurden, ist nicht
       bekannt, deshalb hat man sie wie so viele Opfer zum 8. Mai 1945 für tot
       erklärt.
       
       Auschwitz, diese deutsche Mordfabrik, ist zum Synonym für den Holocaust
       geworden. Andere Tötungsstätten sind nicht so bekannt. Und wohl nur ganz
       wenige Menschen wissen etwas mit dem Begriff Kladovo-Transport anzufangen.
       Heinz Cassirer ist dieser Transport zum Verhängnis geworden. Dabei sollte
       die Reise, so die Hoffnung der Teilnehmer, in der Rettung in Palästina
       münden.
       
       Es existiert dieses Bild, aufgenommen am 17. November 1939 in Berlin. Es
       zeigt Heinz Cassirer mit seinen Eltern. Auf der Rückseite steht geschrieben
       „Letzte Stunde im Elternhaus“. Kurz darauf machte sich Heinz auf den Weg
       nach Wien.
       
       Vorher schon hatte Heinz an einer landwirtschaftlichen Ausbildung in Gut
       Winkel/Spreenhagen (Mark) teilgenommen, als Vorbereitung für das Exil in
       Palästina. So wurde er zusammen mit etwa 130 weiteren Flüchtlingen aus der
       Reichshauptstadt von den Leitern der zionistischen Auswanderungsinitiative
       für die illegale Reise ausgewählt. Illegal war sie, weil die britische
       Mandatsmacht in Palästina keine Einwanderungszertifikate bereitgestellt
       hatte. Die Nazis dagegen favorisierten damals, kurz nach Beginn des
       Krieges, noch die Vertreibung der Juden.
       
       ## Donaufahrt mit Hakenkreuzflagge
       
       Von Wien ging es nach Bratislava, nun angeschlossen einer großen
       Flüchtlingsgruppe mit mehr als 800 Teilnehmern, meist österreichische
       Juden. Von dort, nach quälender Wartezeit, über die Donau – in Richtung
       Rumänien, mit dem Ziel Schwarzes Meer, in der Hoffnung, irgendwie Palästina
       zu erreichen. Sie fuhren zunächst mit dem Dampfer „Uranus“, auf dem die
       Hakenkreuzflagge wehte. Sie besaßen zehn Reichsmark, und das Gepäck war auf
       acht Kilogramm limitiert. Es war eiskalt. In Budapest wurden die
       Flüchtlinge auf drei kleine Dampfer umgeladen.
       
       In Serbien war Schluss. Der Eisgang auf der Donau machte eine Weiterreise
       unmöglich. Die Schiffe sollten in Kladovo überwintern, einem kleinen,
       abgelegenen Hafen. Es fanden sich keine neuen Boote, auch nicht nach dem
       Winter. Dort saß die Gruppe unter elenden Bedingungen fest – bis zum
       September 1940.
       
       Dann ging es weiter, aber in die verkehrte Richtung, donauaufwärts nach
       Sabac. Einigen jungen Juden gelang von dort die Flucht, wenige erreichten
       mehr als ein Jahr später ihr Ziel Palästina. Heinz Cassirer war nicht unter
       ihnen.
       
       Im Frühjahr 1941 eroberte die Wehrmacht Jugoslawien. Die Nazis hatten die
       Flüchtlinge eingeholt. Ihr Ziel war nicht länger die Vertreibung, sie
       hatten sich zum Massenmord entschlossen.
       
       ## Erschossen an der Save
       
       Heinz Cassirer und die anderen Kladovo-Flüchtlinge kamen in ein örtliches
       KZ. Am 10. Oktober 1941 befahl General Franz Böhme: „805 Juden und
       Zigeuner werden aus dem Lager Sabac, der Rest aus dem jüdischen
       Durchgangslager Belgrad entnommen.“ Einen Tag später begann der
       Todesmarsch, dem sich die männlichen Flüchtlinge des Kladovo-Transports
       anschließen mussten. Sie wurden am 12. und 13. Oktober 1941 an der Save
       erschossen. Zu den Opfern zählte nach allem, was man weiß, auch Heinz
       Cassirer. Er wurde 23 Jahre alt. Die Frauen wurden bald darauf in einem
       Gaswagen ermordet.
       
       Der 50-jährige Thomas Heilbronn, Urenkel von Alice und Arthur Cassirer und
       Cousin von Heinz, wird am Samstag bei der Stolpersteinverlegung sprechen.
       Er wird sagen: „Als Erkenntnis aus den Biografien von Alice, Arthur und
       Heinz möchte ich Euch bitten, Ungerechtigkeiten, Unmenschlichkeit und der
       Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie entgegenzutreten.“
       
       15 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
       ## TAGS
       
   DIR Holocaust
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Palästina
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Stolpersteine
   DIR Stolpersteine
   DIR Staatsbürgerschaft
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Serbien
   DIR Schweden
   DIR Kandel
   DIR NS-Raubkunst
   DIR Mahnmal
   DIR Stolpersteine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Dezentrales Mahnmal in Berlin: „Verlegung ist eine Trauerfeier“
       
       30 neue Stolpersteine werden in Berlin verlegt. Eingeladen ist jeder, auch
       Nachbarn und Angehörige. Einige von ihnen haben Angst vor rechten Gegnern.
       
   DIR Nachkommen von NS-Verfolgten: Ausgebürgert bleibt ausgebürgert
       
       Marlene Rolfes Mutter floh vor den Nazis nach England. Nun möchte die
       Tochter Deutsche werden. Das geht nicht.
       
   DIR AfDler besuchen Sachsenhausen: In KZ-Gedenkstätte gestört
       
       Im Konzentrationslager Sachsenhausen musste eine Führung mit AfDlern
       abgebrochen werden. Die Gruppe hatte die Verbrechen der Nazis verharmlost.
       
   DIR Tödlicher Bandenkrieg in Serbien: Generalstreik nach Mord an Anwalt
       
       Der prominente Strafverteidiger Dragoslav Ognjanović wurde Opfer des
       serbischen Mafiakrieges. Seine Kollegen wollen aus Protest die Arbeit
       niederlegen.
       
   DIR Schwedische Fernsehsendung: „Faktencheck“ zum Holocaust
       
       Neonazis behaupten gerne, der Holocaust sei erfunden. Ein schwedischer
       Sender hat einen „Faktencheck“ dazu veröffentlicht. Viele kritisieren das.
       
   DIR Kritik an Aktion von AfD-naher Initiative: Missbrauchte Stolpersteine
       
       Im Netz wurde ein Foto verbreitet, das Stolpersteine mit Namen ermordeter
       Mädchen zeigt. Der Zentralrat der Juden kritisiert die Aktion.
       
   DIR Gestohlene Judaica: Die Spur des Sabbatleuchters
       
       Wie erforscht man die Herkunft jüdischer Kulturgüter? Eine Fachtagung in
       Berlin unternahm den Versuch, Museumsmitarbeiter zu schulen.
       
   DIR Gedenken in Moabit: Eine Hecke gegen das Vergessen
       
       Das Deportationsmahnmal an der Levetzowstraße soll nach unglücklichen
       Umgestaltungen seine Würde und Erinnerungsfunktion zurückerhalten.
       
   DIR SchülerInnen verlegen Stolperstein: Einfach mal wieder stehenbleiben
       
       SchülerInnen der Freien Waldorfschule Kreuzberg haben das Schicksal einer
       jüdischen Familie recherchiert. Ein kleiner Ortstermin.