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       # taz.de -- Vor dem Parteitag der NRW-Grünen: Sozialpolitik wird Mainstream
       
       > Der Chef der NRW-Grünen, Felix Banaszak, geht auf Distanz zu den Reformen
       > der Schröder-Regierung. Er will eine mitfühlende Sozialpolitik.
       
   IMG Bild: Will wiedergewählt werden: NRW-Grünen-Chef Felix Banaszak
       
       Nachdenklich sitzt Felix Banaszak im Büro der Obdachloseninitiative
       fiftyfifty in Düsseldorf. Seit Januar ist der 28-Jährige Landesvorsitzender
       der Grünen in Nordrhein-Westfalen – am Samstag will er bei einem Parteitag
       im rheinischen Troisdorf für zwei weitere Jahre im Amt bestätigt werden.
       Der ehemalige Bundesvorsitzende der Grünen Jugend steht für einen neuen
       Kurs: Nach der verlorenen Landtagswahl vom Mai 2017, bei der die Grünen auf
       6,4 Prozent abstürzten und zusammen mit der SPD aus der Regierung flogen,
       will Banaszak bei den WählerInnen mit einer mitfühlenderen Sozialpolitik
       punkten.
       
       Seit März ist der Duisburger, der in Berlin Sozial- und Kulturanthropologie
       studiert hat, deshalb im ganzen Land unterwegs, hat Projekte für Alte und
       Behinderte ebenso besucht wie Vereine, die Demenzkranke oder Haftentlassene
       unterstützen. „Zusammenhalts-Tour“ nennt die Pressestelle der NRW-Grünen
       die Reise ihres Chefs mit den dunklen Locken und Piercing an der
       Unterlippe.
       
       „Wir wollen nicht als grüne Fachpolitiker von oben abgehobene Lösungen
       präsentieren, sondern aus der Praxis heraus diskutieren“, sagt Banaszak,
       als er sich bei fiftyfifty vorstellt. Zwei Stunden Zeit hat er mitgebracht
       – und die nutzen die SozialarbeiterInnen Julia von Lindern und Oliver
       Ongaro, um das Konzept „Housing First“ vorzustellen, mit dem ihre
       Initiative Obdachlose dauerhaft von der Straße holen will.
       
       ## Obdach ist oft nur ein „Durchlauferhitzer“
       
       60.000 Euro kosten zwei Jahre stationäres betreutes Wohnen, rechnen die
       beiden in ihrem makellos weißen Büro vor. Untergebracht werden Wohnungslose
       damit trotzdem oft nur in heruntergekommenen, „Obdach“ genannten
       Einrichtungen. „Ich bin da in Exkremente getreten. Die Scheiße hing auch an
       der Wand. Ich konnte vor Dreck nicht duschen, ich konnte die Küche nicht
       benutzen“, sagt André K., der seit Jahren die Obdachlosenzeitung der
       Initiative verkauft. „Hammerdankbar“ sei er, weil ihm fiftyfifty eine ganz
       normale Wohnung vermietet hat, sagt der Ex-Junkie, in dessen Hals noch
       Narben die Stellen zeigen, an denen er sich früher Heroin gespritzt hat.
       „Seit zwei Jahren bin ich clean, aber noch im Methadonprogramm“, sagt der
       40-Jährige.
       
       Eine Unterbringung im Obdach sei oft nur ein „Durchlauferhitzer“, erklärt
       Sozialarbeiterin von Lindern – aus dem Milieu aus Gewalt, Alkohol und
       Drogen kämen viele dort Untergebrachte nicht heraus. „Wir vermitteln
       richtige Wohnungen mit regulären, unbefristeten Mietverträgen“, sagt sie,
       „kein Obdach, keine Notunterkunft“: Den Wohnungslosen solle zu allererst
       ihre Würde zurückgegeben werden, erklärt ihr Kollege Ongaro. Erst danach
       werden Probleme wie Sucht, Schulden, Arbeitslosigkeit angegangen – falls
       gewünscht. Aber: Hilfe suchten die Allermeisten.
       
       „Die grundsätzliche Frage ist doch: Wie unterstütze ich Leute, dass sie ihr
       Leben wieder in den Griff bekommen“, findet auch Banaszak. Interessiert
       fragt er nach der Finanzierung: Die seit 24 Jahren bestehende Initiative
       ist immer wieder von bekannten Künstlern wie etwa Markus Lüpertz und
       Günther Uecker unterstützt worden. Erst im Mai hat der Kölner Gerhard
       Richter 30 Bilder gespendet – fiftyfifty hofft auf einen Erlös von mehr als
       einer Million Euro.
       
       „Am Ende landet man beim Menschenbild – nicht nur bei Hartz IV“, sagt
       Banaszak. „Harte Sanktionen helfen nicht. Strafen ist kein Wert an sich“,
       meint der Grünen-Chef, der von 2014 bis 2017 das NRW-Büro des
       Europaabgeordneten und Attac-Mitbegründers Sven Giegold geleitet hat.
       
       Der Parteilinke fährt damit in NRW eine ähnliche Linie wie Grünen-Chef
       Robert Habeck im Bund. „Die Zeit ist über Hartz IV hinweggegangen“, hatte
       der Realo aus Schleswig-Holstein schon im März erklärt – und war damit auf
       Distanz zu den Kürzungen gegangen, mit denen SPD und Grüne seit der
       Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Gerhard Schröder Arbeitslose massiv
       unter Druck gesetzt haben. Zuvor hatte auch Banaszaks Vorgänger als
       NRW-Landesvorsitzender, der im Herbst 2017 als sozialpolitischer Sprecher
       der Bundestagsfraktion nach Berlin gewechselte Sven Lehmann, die
       sogenannten Reformen massiv kritisiert.
       
       ## Mietpreisexplosionen werden zum Thema gemacht
       
       „Dass Hartz IV weg muss, sehen in der Partei viele so“, sagt Banaszak
       deshalb zufrieden. Auch er ist Anhänger eines armutsfesten, sanktionsfreien
       Grundeinkommens, dass außerdem „Anreize zu zusätzlicher Arbeit“ schaffen
       soll – also einer Art negativer Einkommenssteuer. Dass die unter diesem
       Label politisch nicht vermarktbar ist, weiß er allerdings auch.
       
       In NRW wollen die Grünen zunächst die horrende Mietpreisexplosion in
       Städten wie Köln zum Thema machen: „Soziale Gerechtigkeit wird vom
       vermeintlichen Randgruppenthema zum Mainstream“, sagt Banaszak dazu. Ein
       von seiner Co-Landeschefin Mona Neubaur verantworteter Leitantrag fordert
       deshalb die Schaffung von landesweit 250.000 neuen Wohnungen bis 2022.
       
       Gegen Widerstände in der Fraktion, in der manche das miese Wahlergebnis von
       2017 angesichts guter Umfragewerte von 12 Prozent für einen Betriebsunfall
       halten, will Banaszak die Partei auch bei den Themen Schule und Bildung neu
       aufstellen – viele machen dagegen allein die von Ex-Schulministerin Sylvia
       Löhrmann mangelhaft umgesetzte Inklusion für den Absturz der Grünen
       verantwortlich. Der Landesvorsitzende aber will erst einmal die Analyse
       durch eine auch mit externen Fachleuten besetzte Kommission abwarten: „Wir
       brauchen ein Bildungssystem, dass junge Menschen auf Berufe vorbereitet,
       von denen wir heute noch gar nicht wissen, dass es sie geben wird“, sagt
       er.
       
       Wie stark die Partei Banaszaks neuen Stil der Öffnung, des Zuhörens
       mitträgt, wird sein Wahlergebnis auf dem Troisdorfer Parteitag zeigen.
       Gegenkandidaten haben Neubaur und er Grünen-untypisch keine.
       
       15 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Wyputta
       
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