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       # taz.de -- Unionsstreit über Flüchtlingspolitik: Offene Rebellion gegen Merkel
       
       > Seehofer droht Merkel unverhohlen mit einem Alleingang. Die Kanzlerin und
       > ihre Unterstützer wirken geschwächt. Es wird ernst.
       
   IMG Bild: Die Nachricht des Abends: Angela Merkel ist weiter im Amt
       
       Berlin taz | Als Alexander Dobrindt am Donnerstagnachmittag um kurz nach
       drei vor die Sprecherwand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion tritt, scheint die
       Gefechtslage nach Stunden heftigen Streits kaum verändert zu sein.
       
       Es werde, sagt der CSU-Landesgruppenchef, am Montag in München eine
       Parteivorstandssitzung geben. Dort werde man dem Parteivorsitzenden und
       Bundesinnenminister Horst Seehofer den Auftrag zur Umsetzung seines
       umstrittenen Masterplans Migration geben. Die CSU unterstütze die
       Bemühungen um eine europäische Lösung, wendet sich Dobrindt indirekt an die
       Kanzlerin, sie könne darauf aber nicht länger warten. Zu lange sei über
       Flüchtlingspolitik nur geredet worden.
       
       Die Botschaft ist eindeutig: Die CSU im Bundestag geht in die offene
       Konfrontation mit der Kanzlerin und deren Partei, der CDU. Seehofer,
       Dobrindt und nicht zuletzt Bayerns neuer Ministerpräsident Markus Söder
       setzen die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufs Spiel.
       
       Über Dobrindts Äußerung vor dem Fraktionssaal, es gehe bei diesem Konflikt
       sicher nicht um irgendwelche Landtagswahlen, müssen selbst die
       JournalistInnen lachen. Denn genau darum geht es der CSU: um
       innenpolitische Eskalation, vier Monate vor der bayerischen Landtagswahl.
       
       Diese Eskalation beginnt eigentlich schon am späten Mittwochabend. Merkel
       und Seehofer treffen sich zu einem dreistündigen Gespräch im Kanzleramt,
       mit dabei sind Söder und der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier
       (CDU). Ziel ist es, einen Kompromiss zu finden, der die explosive Lage
       entschärft. Merkel geht einen Schritt auf Seehofer zu.
       
       Sie bietet an, zumindest die Flüchtlinge an der deutschen Grenze
       abzuweisen, die schon in Deutschland ein Verfahren durchlaufen haben.
       Abgelehnte Asylbewerber also, die ein zweites Mal einreisen wollen.
       Außerdem will sie [1][bilaterale Vereinbarungen mit EU-Staaten
       abschließen], die besonders viele Geflüchtete aufnehmen – um juristisch
       wasserdichte Abweisungen an der Grenze zu ermöglichen.
       
       Seehofer reicht das nicht. Europäische Lösungen dauern seiner CSU zu lange
       – und sie glaubt auch nicht an ihren Erfolg. Das hat Dobrindt diese Woche
       deutlich gemacht. Die CSU will, dass Deutschland in Eigenregie Leute an der
       Grenze zurückschickt, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert
       sind. Das wäre eine viel größere Gruppe. Die Kompromisssuche scheitert, die
       vier gehen uneinig auseinander.
       
       ## Spahn schert aus
       
       Am Donnerstagmorgen sucht Merkel Unterstützer im CDU-Präsidium. In einer
       Telefonschalte wird reihum abgefragt. Alle stützen Merkels Position –
       unterschiedlich begeistert. Nur einer schert aus: Gesundheitsminister und
       Merkel-Kritiker Jens Spahn, der seit Langem harte Töne in der
       Flüchtlingspolitik anschlägt. Eine solche Frage, sagt er, müsse in der
       Unionsfraktion besprochen werden. Die sei das entscheidende Gremium, heißt
       es in seinem Umfeld. Dort säßen CDUler und CSUler zusammen.
       
       Am Vormittag eskaliert der Streit im Bundestag. Das Parlament tagt ab 9
       Uhr, auf der Tagesordnung steht ein Bundeswehrmandat und eine Debatte über
       den G7-Gipfel in Kanada. Gepflegte Routine, eigentlich. Um 11.30 Uhr
       unterbricht Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) plötzlich die
       Sitzung, die Unionsfraktion will sich bei einem Krisentreffen beraten.
       
       Dafür scheint es erheblichen Bedarf zu geben. Die Fraktion trennt sich –
       die Abgeordneten der CDU laufen auf der Fraktionsebene mit ernsten Mienen
       in den großen Saal, die der CSU ins Turmzimmer nebenan. Allein diese
       Trennung zeigt, wie ernst die Lage ist – niemand unter den BeobachterInnen
       hat derlei schon mal erlebt.
       
       ## Droht die Vertrauensfrage?
       
       Journalisten, per SMS alarmiert, hetzen in den Reichstag. Vor den Sälen der
       Union gibt es einen Auflauf, alle starren auf ihre Smartphones, Gerüchte
       machen die Runde: Ist das der Bruch zwischen CDU und CSU? Muss Merkel die
       Vertrauensfrage stellen? Platzt die Koalition wegen der Flüchtlingspolitik?
       
       Die CSU scheint fest entschlossen, den Konflikt maximal zu eskalieren.
       Seehofer droht Merkel vor den CSU-Abgeordneten mit einem Alleingang. Sollte
       es keine Einigung in der Frage um die Zurückweisung von Flüchtlingen geben,
       wolle er notfalls per Ministerentscheid handeln. Dazu wolle er sich am
       Montag den Auftrag des CSU-Vorstandes einholen.
       
       Der Abgeordnete Hans-Peter Friedrich sagt am Nachmittag beim Fernsehsender
       Phoenix, die Landesgruppe habe sich geschlossen hinter Seehofer gestellt.
       
       ## Ultimative Drohung
       
       Ein Ministerentscheid gegen den Willen der Kanzlerin, das ist eine
       ultimative Drohung. Denn es folgte eine Spirale der Eskalation: Merkel
       müsste Seehofer aus dem Kabinett entlassen, die CSU müsste dies mit dem
       Koalitionsbruch vergelten. Drohen Neuwahlen? Vielleicht will sich Seehofer
       auch beim CSU-Vorstand eine entsicherte Waffe besorgen – würde aber nicht
       abdrücken.
       
       Doch ein Beibiegen ist für ihn kaum noch möglich. Hinter ihm stehen die
       neuen starken Männer der CSU, die den Druck weiter erhöhen. Söder spricht
       von einem „Endspiel um die Glaubwürdigkeit“. Er sehe die Union an einer
       „historischen Weggabelung“, sie müsse endlich die Fehler von 2015 beheben.
       Damals hatte die schwarz-rote Regierung Merkel Hunderttausende Flüchtlinge
       ins Land gelassen.
       
       Im großen Sitzungssaal nebenan stellen sich die CDU-Abgeordneten hinter
       Merkel. Sie bittet sie um zwei Wochen Zeit. Am 28. und 29. Juni tagt der
       Europäische Rat, bis dahin will sie bilaterale Vereinbarungen mit anderen
       Ländern treffen. Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer unterstützt
       Merkel, auch Wolfgang Schäuble springt ihr bei. Er spricht laut der Zeitung
       Die Welt von einer „historischen Stunde“.
       
       ## Spahns zweite Attacke
       
       Dann zielt Spahn erneut gegen Merkel. Er beantragt, gemeinsam mit der CSU
       weiter zu tagen. Unionsfraktionschef Volker Kauder redet dagegen, Spahn
       verliert die Abstimmung. Was am Dienstag bei der gemeinsamen
       Fraktionssitzung noch gefehlt hatte – Unterstützung der Kanzlerin –,
       formiert sich an diesem Donnerstag. Vielleicht zu spät.
       
       Wie sehr der Streit Merkel und ihre Leute schwächt, ist danach zu
       beobachten. Nach Dobrindts erneuerter Kampfansage kontert nicht der
       Unionsfraktionschef. Statt Volker Kauder tritt nur sein Sprecher vor die
       Kameras. Ulrich Scharlack erklärt, der Kurs der Kanzlerin, bilaterale
       Verhandlungen mit anderen Staaten zu führen, habe breite Unterstützung
       gefunden. Merkel wiederum fühle sich darin gestärkt, sich bis zum EU-Gipfel
       um Abmachungen mit anderen Regierungen zu bemühen. Mühe allein wird ab
       jetzt nicht mehr reichen.
       
       14 Jun 2018
       
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