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       # taz.de -- Katja Riemann über Aktivismus: „Ich hab schon Fussel auf der Zunge“
       
       > Wie verteidigt man erfolgreich die offene Gesellschaft? Katja Riemann
       > über ihr Engagement abseits der Schauspielerei – für Demokratie und
       > Menschenrechte.
       
   IMG Bild: Katja Riemann mit dem Filmpreis Lola für „Fack ju Göthe“
       
       taz am wochenende: [1][In Ihrem Social-Spot „Warum sind Sie hier?!“] werden
       Sie in einem Keller brutal verhört, weil Sie sich für die Verteidigung der
       offenen Gesellschaft engagieren. Steht es so schlimm, Frau Riemann? 
       
       Katja Riemann: Wir saßen zusammen und suchten nach einer Idee, um für den
       Tag der offenen Gesellschaft zu werben, für unsere Tafel am 16. Juni.
       Letztes Jahr war es eine kurzfristige Aktion, dieses Jahr wollten wir
       richtig planen. Mascha Roth von der OG sagte: Es muss gleich etwas
       passieren, die Leute schalten weg nach drei Sekunden, wenn’s gut geht, nach
       fünf. Wir brauchten einen hohen Einstieg, etwas Krasses zu Neudeutsch; und
       wir mussten zuerst etablieren, was die OG ist, bevor wir auf die Tafel
       hinweisen. So schlug ich also vor, dass wir in eine Verhör- bzw.
       Foltersituation einsteigen, das Pars pro Toto von Staatsgewalt und Willkür.
       
       Sie kriegen immer Wasser ins Gesicht gespritzt. 
       
       Das Wasser steht als Zeichen für Folter. Jede Antwort auf eine unklar
       formulierte Frage ist falsch, da es darum geht, zu zerstören, zu demütigen,
       zu ängstigen, Macht zu manifestieren. So schrieb ich dann die Szene und
       bereitete die Dreharbeiten mit meiner Tochter Paula Riemann vor, die den
       Spot inszeniert hat.
       
       Diese Szene hat eine wahnsinnig hohe Intensität, die man nicht einfach
       wegglotzen kann, sondern die einen mitnimmt. 
       
       Es freut mich, dass Sie das sagen. Die Frage war bzw. ist: Wie generiert
       man Bewusstsein für den Wert einer offenen Gesellschaft? Wie kommen wir um
       das Stigma des „Gutmenschen“ herum, weil wir langweilig an das erinnern,
       was bereits errungen wurde und was es unserer Meinung nach zu beschützen
       gilt? Wenn ich sage „uns“ und „wir“, spreche ich von den Menschen, die
       aktiv die Initiative „Die Offene Gesellschaft“ unterstützen, sei es
       hauptberuflich oder ehrenamtlich.
       
       Nach 90 Sekunden sieht der Zuschauer, dass es ein Film in einem Film ist.
       Sie brechen die Folterszene ab und verlassen das Haus, um den Tag der
       offenen Gesellschaft mit anderen zu feiern. 
       
       Genau. Im besten Fall weicht die Anspannung einem Gefühl der Erleichterung.
       Das Zitat einer diktatorischen Struktur, die, wenn wir mal ehrlich sind,
       bereits um uns herum zunimmt, dieses Bild wird gebrochen: Nein, wir leben
       nicht so, wir leben in einer Demokratie. Aber wenn wir erst an dem Punkt
       sind, an dem der Film beginnt, wird es schwierig. Deshalb müssen wir jetzt
       präventiv etwas tun. Voll anstrengend.
       
       Demokratien gehen nicht an zu vielen Feinden zugrunde, sondern an zu
       wenigen Verteidigern, pflegt Harald Welzer zu sagen. Wir brauchen aktive
       Verteidiger. 
       
       I agree. Wie bilden wir so eine Gemeinschaft, wie schaffen wir Solidarität?
       In öffentlich sichtbarem Ausmaß? Während der Vorbereitung war ich partiell
       so frustriert und rief unseren Vorstand André Wilkens an und sagte: „Die
       Rechten haben viel mehr Solidarität, da ruft einer auf, und sofort
       unterschreiben 120.000 Leute. Ich frage mich: Wo sind unsere Leute?“ „Ja,“
       sagte André, „die wollen ja auch was verändern, wir wollen nur, dass etwas
       besteht.“
       
       „Wo sind unsere Leute“ ist eine große Frage der Zeit.
       
       Ich hab schon Fussel auf der Zunge, vom dauernden Erzählen über und von der
       OG. Ich finde, es sind viel zu wenige Künstler dabei, zu wenige meiner
       Kollegen. Aber: Als ich Oliver Masucci, um mal über meinen großartigen
       Partner des Spots zu sprechen, fragte, ob er mitspielen würde, und gerade
       ansetzen wollte, zu erklären, was die OG ist, sagte er: „Ja, ich weiß,
       davon hast du mir viel erzählt“ – da haben sich die Fussel gelohnt, er war
       sofort dabei. Toll!
       
       Wie verteidigt man die offene Gesellschaft erfolgreich? 
       
       Fragen Sie mich?
       
       Deshalb bin ich hier. 
       
       Wenn ich die Antwort wüsste, kriegte ich den Friedensnobelpreis. Oder Sie,
       wenn Sie das dann schreiben.
       
       Ich würde Sie als Quelle angeben. 
       
       Die Idee der Tafeln, zu denen wir an diesem Samstag überall im Land
       zusammenkommen, um gemeinsam zu essen, zu trinken, zu reden, eben zu
       „tafeln“, besteht darin, unterschiedliche Menschen, Freunde und Fremde,
       Bekannte und hoffentlich auch Unbekannte an einen Tisch zu bringen für ein
       möglicherweise gesellschaftsrelevantes Gespräch. Oder auch zur Verbesserung
       der Lebensqualität. Um in Kontakt zu treten. Um all die dummen Fragen mal
       stellen zu können und auf Menschen zu treffen, die was dazu zu sagen haben,
       ohne dir gleich eine reinzuhauen. Zu sagen, was man will, ist schwieriger
       als zu sagen, was man nicht will. Im Anti-Sein kann man sich irre gut
       einrichten. Darum ist es so tricky mit der OG, darum brauchen wir viele
       Worte, um vom Dabeisein zu überzeugen.
       
       Ich darf überhaupt nicht verneinen? 
       
       Statt zu sagen, was man nicht will, wie: „Ich will keine Fremden hier, ich
       will keine Geflüchteten hier“, sagt man, was man will. Vielleicht klingt
       das dann so: „Ich will in einer Gesellschaft leben, die ausschließlich aus
       weißen Deutschen besteht.“ Oder so. „Hm, interessant. Warum?“
       
       Ich komme nicht drauf. 
       
       Also müssen wir das Gespräch mit jemandem führen, der das will.
       
       Ich hab ’s: Wegen meiner kulturellen Werte. 
       
       Ja, genau, kulturelle Werte, die müssen für alles herhalten. Und alle
       Kollegen mit Migrationshintergrund, die ihn sich noch nicht haben
       wegoperieren lassen, verschwinden.
       
       Was ist das für eine Operation? 
       
       Das ist ein Witz.
       
       Ach. 
       
       Sie brauchen Humor. Das sagen Bora Dağtekin und Elyas M’Barek immer …
       
       … Regisseur und Hauptdarsteller der „Fack ju Göhte“-Kinotrilogie … 
       
       Genau. „Migrationshintergrund“ ist ein gruseliges Wort. Donald Trump hat
       auch Migrationshintergrund übrigens. Deutschen.
       
       „Fack ju Göhte“ mit Ihnen als latent anarchischer Schuldirektorin ist ein
       positiver Entwurf, wie Menschen zusammenleben können. 
       
       Absolut. Also, ich finde ja, dass das gesellschaftsrelevante Filme sind.
       Obwohl sie erfolgreich sind, obwohl sie komödiantisch sind, obwohl Menschen
       mit Migrationshintergrund die Hauptrolle spielen. Diese Filme haben eine
       klare Botschaft.
       
       Nämlich? 
       
       Geht zur Schule. Übernehmt Verantwortung für euer Tun. Seid nett zu euren
       Eltern. Mobbing ist scheiße. Überlegt euch, was ihr mit eurem Leben
       anfangen wollt. Damit sollten sich Jugendliche in ihren letzten Schuljahren
       beschäftigen, oder nicht?
       
       Mit solchen Filmen bewegt man mehr als mit Arthouse? 
       
       Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, womit man was bewegt. Jeder muss
       sich bewegen. Bewegung ist Leben.
       
       Jetzt haben andere sich bewegt, und zwar an den gesellschaftskritischen
       Rand, dabei dachten wir Linksliberale und Kulturlinke doch immer, dass wir
       vom Rand aus den doofen Mainstream kritisieren. 
       
       Das ist eine sehr angenehme Position, dort am Rand, von der aus man etwas
       onanistisch die Mitte kritisiert. In dem Moment, in dem ich mich bewege,
       zum Beispiel in die hassenswerte Mitte, und mich einmische, mache ich mich
       angreifbar. Und – zack – steht jemand anderes auf meinem Platz am Rand und
       greift mich an. Zum Kotzen. Will man also agieren oder reagieren?
       
       Sie haben mal gesagt, man komme nicht weiter damit, anderen ein schlechtes
       Gewissen zu machen. 
       
       Stimmt. Das habe ich aus meiner Menschenrechtsarbeit gelernt. „Muss ‚man‘
       sich nicht schlecht fühlen, weil ‚die‘ es so schlecht haben?“ Und schon
       biste wieder bei dir. „Man“ könnte aber auch über die Situation in zum
       Beispiel Burkina Faso oder Burundi oder Ostkongo reden, statt über unser
       schlechtes Gewissen. Ich will das nicht abtun, aber ich glaube, diese
       Selbstbespiegelung könnte hin und wieder beiseitegelegt werden, indem wir
       was tun. Oder fragen: Was ist es, das uns lebendig macht, was inspiriert
       und beflügelt uns? Für mich ist das, abgesehen von Schauspielerei, die
       Offene Gesellschaft oder überhaupt menschenrechtliche Arbeit. Und ihr
       positiver Ansatz. Das habe ich von den Menschen im Feld gelernt.
       
       Was? 
       
       Du kannst diese Arbeit nicht machen, wenn du dich darauf fokussierst, was
       alles nicht geht. Die Frage ist: Was wollen wir bewegen, was können wir
       bewegen, was haben wir schon bewegt? Die Arbeit im Feld oder in den
       Communities ist immer konkret und konstruktiv. Die Probleme gehen einem
       sowieso nicht aus: politisches Desaster, gesellschaftliche Defizite,
       Krankheiten, rückwärtsgewandte Traditionen, Menschenrechtskatastrophen und
       dann – zong – kommt on top noch die Dürre. Oder die Flut. Oder Ebola.
       
       Worauf wollen Sie hinaus? 
       
       Ich weiß nicht … wir müssen irgendwie miteinander kommunizieren, das ist
       das Zauberwort. Wir müssen uns das Unbekannte bekannt machen.
       
       16 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.die-offene-gesellschaft.de/16juni
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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