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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Frau sein und frei sein in Riad
       
       > Das saudische Regime gesteht Frauen immer mehr Rechte zu. Mit dieser
       > Strategie poliert es seine Außendarstellung auf und grenzt sich vom Iran
       > ab.
       
   IMG Bild: Eine Einkaufsstraße in Riad
       
       Es gibt viele Gründe, das saudische Regime zu kritisieren, nicht zuletzt
       für seine Missachtung der Frauenrechte. Doch ausgerechnet auf diesem Feld
       hat sich in letzter Zeit viel getan. Im Februar 2018 wurde die Radiologin
       Tamader al-Rammah zur stellvertretenden Arbeitsministerin ernannt, und so
       sitzt nun zum zweiten Mal in der Geschichte des Landes eine Frau in der
       Regierung. Armee und Polizei stellen mittlerweile Frauen ein, und dann
       wurde nach 35 Jahren nicht nur das Kinoverbot aufgehoben, Männer und Frauen
       können sogar erstmals gemeinsam ins Kino gehen. Womöglich könnte auch die
       Geschlechtertrennung an öffentlichen Orten gelockert werden.
       
       Doch dass Frauen ab dem 24. Juni allein Auto fahren dürfen, ohne dass ein
       männlicher Vormund zustimmen muss, hat wohl am meisten Aufsehen erregt. Die
       schon im September letzten Jahres angekündigte spektakuläre Reform ist Teil
       von Kronprinz Mohammed bin Salmans (kurz: MBS) ambitioniertem
       Wirtschafts- und Sozialprogramm „Vision 2030“. Selbst die Abaya, das lange
       schwarze Gewand, das saudische Frauen in der Öffentlichkeit tragen, ist
       nicht mehr obligatorisch.
       
       Im Februar erklärte ein Geistlicher im Radio, es könne genügen, sich
       „dezent“ zu kleiden. Einige Wochen später ließ der Kronprinz während seines
       Staatsbesuchs in den USA in einem Interview die Bemerkung fallen, eine
       Muslimin ohne Abaya sei eine Muslimin „wie alle anderen“. Da sich das
       Königreich partout von seinem Rivalen Iran abgrenzen will, indem es gute
       Beziehungen zum Westen pflegt, ist der Status der Frauen ein wichtiger
       Faktor in der Außendarstellung des Kronprinzen. Das Königshaus hat zudem
       zahlreiche westliche Werbeagenturen wie Publicis, Image Sept oder Edile
       Consulting engagiert, um sein schlechtes internationales Image zu
       verbessern.
       
       Schwer zu sagen, ob sich die saudischen Frauen über all diese Veränderungen
       freuen. Denn es gibt bekanntlich keine Meinungsfreiheit in diesem Land, in
       dem immerhin ein Drittel der 30 Millionen Einwohner aus dem Ausland kommt.
       Die jungen Leute – 70 Prozent der Saudis sind unter 35 – machen jedenfalls
       einen zufriedenen Eindruck. Und von Frauen hört man, sie seien es leid,
       dass Saudi-Arabien immer nur nach dem Status der Frauen beurteilt wird.
       
       ## Religionspolizei eingeschränkt
       
       So empört sich die Hochschuldozentin Hoda al-Helaissi: „Es macht mich
       krank, dass man immer auf uns herabschaut. Sie wollen uns vorschreiben, wie
       wir uns verhalten sollen, aber wir sind ein Land, in dem Stammesgesetze und
       Traditionen regieren. Wir haben das Recht, uns in unserem eigenen Tempo zu
       entwickeln!“ Sie ist eine von 30 Frauen, die der Madschlis asch-Schura
       angehören, der Beratenden Versammlung, die der Regierung
       Gesetzesvorschläge macht. Ihre 150 Mitglieder werden nicht gewählt,
       sondern vom König ernannt. Seit 2013 nehmen erstmals auch Frauen daran
       Teil. Fawziah al-Bakr ist eine von 47 Pionierinnen, die sich schon im
       November 1990 ans Steuer gesetzt hatten, um öffentlich gegen das Fahrverbot
       für Frauen zu demonstrieren. Die Pädagogik-Professorin an der
       König-Saud-Universität in Riad ist begeistert über die jüngsten
       Entwicklungen: „In zwei Jahren haben wir erreicht, was wir seit 30 Jahren
       fordern. Die Veränderungen sind enorm. Man muss es sich mit eigenen Augen
       anschauen.“
       
       Ein noch viel wichtigerer Wendepunkt als die Aufhebung des Fahrverbots war
       es für viele Frauen, als vor zwei Jahren die Religionspolizei Muttawa, die
       die Frauen an allen öffentlichen Orten verfolgte, in die Schranken gewiesen
       wurde. „Das hat unser Leben wirklich verändert“, sagt Fawziah al-Bakr.
       „Vorher haben sich die Frauen gegenseitig kontrolliert, ob sie ,auf Linie'
       waren, und auf der Straße fühlten wir uns belästigt. Seit dieser
       Entscheidung können wir uns viel unbeschwerter bewegen.“
       
       Für die höher gebildeten Frauen ist das nächste Ziel die Aufhebung der
       männlichen Vormundschaft. Diese Bestimmung der in Saudi-Arabien
       herrschenden Scharia verurteilt die Frauen zu lebenslanger Unmündigkeit.
       2017 wurde sie gelockert. Seitdem dürfen Frauen unbegleitet Behördengänge
       tätigen, arbeiten oder ein eigenes Unternehmen gründen, ohne dass ihr
       mahrâm (Ehemann, Vater, Bruder, Sohn oder ein anderer Mann aus der Familie)
       seine Zustimmung geben muss. Doch wenn eine Frau einen Pass beantragen,
       reisen und vor allem heiraten möchte, braucht sie immer noch die Erlaubnis
       des Vormunds.
       
       Hatoon al-Fassi, Dozentin für Frauengeschichte an der
       König-Saud-Universität, sieht die aktuelle Entwicklung positiv, obwohl sie
       nach wie vor jeden Tag kämpfen müsse. „Die Männer stehen genauso unter
       Druck, weil sie nicht wissen, wie viel Spielraum sie haben.“ Diese
       Erfahrung macht sie zum Beispiel jedes Mal, wenn sie ihre wöchentliche
       Kolumne für die regierungsnahe Zeitung al-Riyadh abliefert. Wenn es um ein
       heikles Thema geht, erscheint ihr Beitrag manchmal erst Wochen später, weil
       sich die ausschließlich männliche Chefredaktion keinen Ärger mit dem Regime
       einhandeln will.
       
       ## Die Angst ist überall spürbar
       
       Gefürchtet sind auch die Reaktionen aus dem Klerus. Seit MBS’ Aufstieg
       müssen sich die Geistlichen zwar noch stärker der Regierung unterordnen,
       doch sie sind nach wie vor ein wichtiger Partner des Königshauses und
       könnten unter Umständen wieder mehr Einfluss gewinnen. „Wir tasten uns
       voran, und jeder Schritt ist ein Sieg“, sagt Hatoon al-Fassi, bevor sie
       noch ein paar scharfe Bemerkungen über „feige Männer“ abfeuert, „die nicht
       die Initiative ergreifen wollen und nicht sagen, was sie denken“.
       
       Tatsächlich ist unklar, ob die Menschen in Saudi-Arabien mehrheitlich
       bereit sind, die Veränderungen zu akzeptieren oder eine eher
       rückwärtsgewandte, konservative Einstellung pflegen. 93 Prozent der
       Bevölkerung haben Zugang zum Internet. Und Mangels alternativer Quellen
       könnte man auf die Idee kommen, die stark frequentierten sozialen Netzwerke
       – vor allem Twitter sowie Instagram, Snapchat und Facebook – für die
       Meinungsforschung auszuwerten.
       
       Doch das Netz wird überwacht, weshalb die meisten User sehr vorsichtig
       sind. Hatoon al-Fassi geht sowieso davon aus, dass viele Saudis der Meinung
       sind, dass sich die derzeitigen Veränderungen nicht mit dem Islam
       vereinbaren lassen. Doch dafür könne man heute andere Stimmen hören, die
       früher unterdrückt, wenn nicht gar verteufelt wurden. Sie blicke jedenfalls
       „vertrauensvoll in die Zukunft“, sagt die überzeugte Feministin.
       
       Beunruhigend findet sie nur, dass all diese Veränderungen „von einer
       einzigen Person abhängen“, das sei „nicht gerade gesund“ – eine
       sibyllinische Anspielung auf den Kronprinzen, der allein und oft auf
       brutale Weise über die Reformen entscheidet, ohne eine wirkliche politische
       Öffnung in Aussicht zu stellen.
       
       Im Gegensatz zu ihren iranischen Nachbarn, die einen Präsidenten und ein
       Parlament wählen, stimmen die Männer und Frauen in Saudi-Arabien nicht über
       ihre Abgeordneten ab; so liegt fast die gesamte Macht in den Händen des
       Königshauses. Und das Regime ist noch strenger geworden, die Angst ist
       überall spürbar. Wenn es um den Machterhalt geht, zögert MBS nicht lange,
       Kritiker ins Gefängnis zu stecken, ganz gleich, ob sie aus der
       konservativen oder der fortschrittlichen Ecke kommen.
       
       Zwischen Juni 2017 und Mai 2018 gab es mehrere Verhaftungswellen, in
       manchen Fällen genügte schon ein harmloser politischer Tweet. Die
       Ritz-Carlton-Affäre, benannt nach dem Fünf-Sterne-Hotel in Riad, in dem im
       November 2017 mehrere hundert Prinzen, Unternehmer und hochrangige Beamte
       wegen Korruptionsverdachts festgehalten wurden, sitzt vielen noch in den
       Knochen. Zuletzt traf es im Mai 2018 sieben Frauenrechtlerinnen, denen das
       Regime Staatsverrat und Kontakt zu feindlichen ausländischen Mächten
       vorwirft.
       
       ## Manche wollen nicht Autofahren
       
       In dem beliebten Souk Swakah im Süden von Riad machen sich aber auch die
       Frauen in den schwarzen Abayas, Hidschabs oder Nikabs große Sorgen um ihre
       Zukunft. „Ich bin dagegen, dass Frauen Auto fahren und was sonst noch in
       letzter Zeit passiert ist“, sagt eine etwa 60-jährige Frau. Ihr
       Gesichtsschleier spart nur ihre Augen aus, die sich gerade mit Tränen
       füllen. Seit über zehn Jahren verkauft sie Kleidung. Dass Frauen arbeiten,
       verstoße nicht gegen den Islam, sagt sie. Aber alles andere widerspreche
       den strengen Sitten, die eingehalten werden müssten. Während sie spricht,
       schaut sie sich verstohlen um und fügt laut hinzu: „Aber lang lebe der
       Kronprinz!“
       
       Neben ihr steht die 25-jährige Nurah. Alles, was man von ihr sieht, sind
       geschminkte Augen und weiß lackierte Fingernägel. Auch sie ist gegen die
       Fahrerlaubnis für Frauen. Ihr Ehemann bringt sie morgens zur Arbeit und
       holt sie abends auch wieder ab. „Unser Leben gefällt uns, wie es ist. Wir
       sind nicht wie die Frauen im Westen.“ Sie freut sich, dass sie arbeiten
       kann: „Mein Mann hat mir problemlos die Erlaubnis gegeben. Ich bringe Geld
       nach Hause, und ich langweile mich nicht mehr.“
       
       Im Souk Hidschab sagen die Verkäuferinnen fast das Gleiche. Nur beim Thema
       Auto fangen Ibtissam und Norr, beide um die 50 und mit Nikab, unwillkürlich
       an zu lachen: „Wir fahren seit 30 Jahren! Bei den Beduinen sind die Frauen
       der Meinung, dass sie das Recht dazu haben. Und wie sollten wir es sonst
       machen, so weit weg von allem?“ Beide leben in kleinen Siedlungen etwa 50
       Kilometer nördlich der Hauptstadt.
       
       Eine Witwe, Mutter von acht Kindern, sagt: „Ich arbeite, weil ich das Geld
       brauche. Die Arbeit ist ein Geschenk Gottes. Der Prophet hat uns im Übrigen
       ermutigt zu arbeiten.“ Ihre Freundin ergänzt: „Solange es nicht gegen den
       Islam ist und wir nicht mit Männern zu tun haben, machen wir, was wir
       wollen!“ An einem Stand für Unterwäsche erklärt eine Verkäuferin, dass man
       den Frauen nur deshalb verboten hat, Auto zu fahren, weil man sie schützen
       wollte: „Der Mann muss seine Verantwortung übernehmen.“ Die anderen drei
       Frauen stimmen ihr lebhaft zu.
       
       Die beiden BWL-Studentinnen Jasmeen und Mariam arbeiten nur stundenweise
       als Verkäuferinnen im Souk Hidschab. Den ganzen Tag tippen sie auf ihren
       Smartphones herum. Mariam ist mit einem Medizinstudenten verlobt, den sie
       bei einer Hochzeitsfeier kennengelernt hat. Er hat sie von Weitem gesehen,
       als sie ihren Gesichtsschleier abgelegt hatte, und daraufhin bei ihren
       Eltern um ihre Hand angehalten.
       
       „Die Veränderungen gehen in die richtige Richtung“, sagt ihre Freundin
       lächelnd und macht das Victory-Zeichen. „Weil wir jetzt Auto fahren dürfen,
       werden wir bald selbstständig sein!“ Beide junge Frauen sind jedoch für die
       Beibehaltung der männlichen Vormundschaft: „Dadurch fühlen wir uns
       geschützt.“ Auf die Frage, was sie für die Zukunft erwarten, sagt Mariam:
       „Ich möchte vor allem das Gefühl haben, dass ich als Mitglied der
       Gesellschaft wichtig bin.“
       
       ## Viele Frauen sind ehrgeizig
       
       Viele saudische Frauen machen keinen Hehl aus ihrem Ehrgeiz. „Sie ergreifen
       jede Chance, die sich bietet“, erzählt ein junger Unternehmer. „Sie sind
       dynamischer als die Männer, als hätten sie etwas aufzuholen!“ 97 Prozent
       der Mädchen besuchen eine Schule und 60 Prozent der Studierenden sind
       weiblich.
       
       Seit der Amtszeit König Abdallahs (2005 bis 2015) dürfen Frauen in
       Geschäften arbeiten. Anfangs waren es nur einfache Tätigkeiten als
       Kassiererinnen und Verkäuferinnen, die aber den Weg in alle anderen
       Berufsfelder geöffnet haben – mit Ausnahme der Gerichte. Nach der
       wahhabitischen, aber auch anderen islamischen Auslegungen der Scharia
       dürfen Frauen kein Richteramt ausüben.
       
       Gleichzeitig hat König Abdallah an hunderttausende junger Leute, davon 30
       Prozent Frauen, Auslandsstipendien vergeben. Laut Hoda al-Helaissi haben
       all diese Maßnahmen zur Öffnung beigetragen: „Die jungen Leute sind durch
       die sozialen Netzwerke mit der Außenwelt verbunden. Wegen der
       Wirtschaftskrise reicht ein Gehalt zum Leben nicht mehr aus, und die Frauen
       wollen Karriere machen. Oft werden sie von ihren Ehemännern, Brüdern und
       Vätern unterstützt.“ Alles hängt von den Familien ab, vom sozialen Umfeld
       und vom Wohnort.
       
       Die Frauen der Familie Mansour treffen sich jedes Wochenende zum Abendessen
       bei der Matriarchin in einem riesigen Beduinenzelt im Garten der
       Familienvilla. Im Hintergrund hört man das Rauschen des Verkehrslärms. Die
       6-Millionen-Einwohnerstadt Riad liegt mitten in der Wüste. Es gibt keine
       Wohnblöcke, nur sandfarbene Villen so weit das Auge reicht, ein paar
       futuristisch anmutende Wolkenkratzer, von gedrungenen, staubigen Palmen
       gesäumte Alleen und zahllose Einkaufszentren.
       
       ## Es ist wichtig, die Wahl zu haben
       
       Bei den Mansours, einer alten großbürgerlichen und begüterten Familie, ist
       man eher konservativ. „ ‚Sie‘ wollen, dass wir ein zweites Dubai werden“,
       sagt eine etwa 50-jährige Frau, „aber ich werde meinen Nikab nicht
       ablegen.“ Dass Frauen Auto fahren dürfen, finden sie gut, „solange man uns
       nicht dazu zwingt!“ Ihnen ist es wichtig, „dass wir die Wahl haben“, und
       zwar in allen Bereichen. Eine Frau, die sechs Jahre in den USA gelebt hat,
       möchte nicht auf ihren Chauffeur verzichten: „Das ist zwar teuer, aber
       nicht so anstrengend.“ Tausende saudische Frauen haben Chauffeure aus
       Pakistan, Indien oder Bangladesch – muslimische Arbeitskräfte, die ihren
       saudischen Arbeitgebern vollkommen ausgeliefert sind.
       
       Und was halten die Frauen von der Vormundschaft? „Ab einem gewissen Alter,
       21 Jahre zum Beispiel, sollte man darauf verzichten können.“ Die jungen
       Mädchen hören ihren Müttern und Tanten zu, äußern aber manchmal auch ihre
       eigene Meinung. Die Studentinnen sagen überwiegend, sie wollten „für zwei
       oder drei Jahre ins Ausland gehen, aber dann wieder zurückkommen“. Alle
       wollen arbeiten und heiraten, „frühestens mit 30 Jahren, und nicht mehr als
       zwei oder drei Kinder“ bekommen. Und wie halten sie es mit der Abaya? „Sie
       ist praktisch und elegant, so ähnlich wie ein Mantel.“
       
       Nurah bedauert, dass sie nicht Tiermedizin studieren konnte, ein
       Studiengang, zu dem Frauen noch nicht zugelassen sind. Sie hat sich für
       Naturwissenschaften entschieden und verbringt den Rest der Zeit mit Reiten.
       Eines Tages, daran glaubt sie ganz fest, wird sie ihr Land bei den
       Olympischen Spielen vertreten.
       
       „Mein Bruder hat zur mir gesagt: ,Es ist okay, dass du bei Wettkämpfen
       mitmachst, aber es kommt nicht infrage, dass du ins Fernsehen gehst oder in
       Zeitungen deine Meinung sagst!' Und ich habe geantwortet: ,Es ist mein
       Leben. Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten!‘ “ Im Übrigen ist
       sie der Meinung, dass die Ungleichheit zwischen Mann und Frau mit der
       Tradition zu tun hat und nicht mit der Religion. Diese Unterscheidung ist
       ihr wichtig.
       
       Nurahs Cousine Reema entwirft Abayas, die sie über das Internet vertreibt.
       Ihre bunten Kreationen erinnern an Prinzessinnen- oder Brautkleider. Dank
       Facebook & Co ist ihr Geschäft rasch in Gang gekommen. Mehrere Freundinnen
       haben sich ebenfalls für den Onlinehandel entschieden, eine vor allem bei
       Frauen beliebte Wachstumsbranche. Die eine bietet Fertiggerichte an, eine
       andere Schmuck. Eine dritte ist professionelle Maskenbildnerin. Die meisten
       können davon leben. Am Wochenende treffen sie sich an bestimmten Orten, die
       seit Kurzem für Männer und Frauen zugänglich sind, wie das Café Bateel.
       Hier nehmen sie auch den Gesichtsschleier ab. Es ist eine der sehr seltenen
       Gelegenheiten, junge Männer zu treffen.
       
       ## Die Farbe Schwarz ist allgegenwärtig
       
       Im Vergleich mit dem 750 Kilometer weiter westlich gelegenen Taif erscheint
       das gesellschaftliche Klima in Riad fast liberal. Von Taif bis Mekka sind
       es nur 65 Kilometer. Doch anders als in Dschidda, das sich durch den
       Kontakt mit Pilgern aus aller Welt geöffnet hat, ist Taif sehr konservativ
       geblieben. Es herrscht strikte Geschlechtertrennung, kein Restaurant, kein
       Café verstößt gegen die Regel. Und die Farbe Schwarz ist allgegenwärtig.
       
       „Hier kann man nichts unternehmen“, seufzt die lebhafte Salwa, Studentin
       der Islamwissenschaften. „Ich habe Glück, dass mein Vater mir vertraut,
       aber bei meinen Freundinnen ist das anders. Wenn sie ihren Vormund
       anbetteln, ,Lass mich ausgehen', sagt er ,nein‘, und oft schlägt er sie.“
       
       Viele Mädchen hätten einen Freund, erzählt Salwa. Ihre Eltern glaubten, sie
       seien an der Universität, aber tatsächlich lassen sie sich von ihrem
       Chauffeur an einer Privatwohnung absetzen. Voreheliche sexuelle Beziehungen
       gelten als Unzucht, sind aber gang und gäbe. Abtreibungen sind strikt
       verboten, es sei denn, das Leben der Mutter ist in Gefahr; doch die Frauen
       können die Pille in der Apotheke kaufen, sogar ohne Rezept.
       
       Salwa meint, in Taif würden die Mädchen aus Trotz heiraten – es sind immer
       arrangierte Ehen –, „weil sie endlich ihre Freiheit wollen“. Wenn eine Frau
       erst einmal verheiratet und Mutter ist, hat sie in ihrem Haushalt das
       Sagen. Die Erziehung der Kinder und das Familienbudget sind ihre Domäne.
       Polygamie (zwischen 8 und 10 Prozent der Ehen) ist in der jungen Generation
       inzwischen selten, obwohl immer wieder Stimmen laut werden, die sie wegen
       der Versorgung unverheirateter Frauen verteidigen.
       
       ## Der Traum von Frauenrechten
       
       Wenn Salwa nicht an der Universität ist, sitzt sie vor dem Fernseher. Sie
       liebt türkische und indische Serien. Über die saudischen Männer macht sie
       sich keine Illusionen. „Sie wissen nicht, was Liebe ist. Sie wollen nur
       Sex.“ Ob arrangiert oder nicht, „beinahe jede zweite Ehe endet heute mit
       der Scheidung“, erzählt der Sozialwissenschaftler Mohammed al-Amri. Er hat
       kürzlich in der Presse Alarm geschlagen, weil die hohen Scheidungsraten ein
       Problem seien, „das schwerwiegende Konsequenzen für die Gesellschaft“
       habe.
       
       Salwas Freundin Khadija ist 28 Jahre alt und schon geschieden. Ihr Mann hat
       sie geschlagen. Sie wohnt jetzt bei ihrem Bruder, der ihr Vormund geworden
       ist, und arbeitet in einem Friseursalon. „Mein Bruder hat Angst vor dem
       Getuschel der Nachbarn“, sagt Khadija. „Hier zählt nur, was die Leute
       reden!“
       
       Die beiden Freundinnen trauern den Zeiten nach, als die Religionspolizei
       noch patrouillierte. „Da hat man uns wenigstens auf der Straße in Ruhe
       gelassen. Heute werden wir belästigt! Die Männer verfolgen uns und wollen
       unsere Telefonnummern.“ Die beiden träumen davon, in ein Land zu gehen, „wo
       die Frauen Rechte haben“. In Taif wird es ihrer Einschätzung nach noch
       „mindestens eine Generation“ dauern, bis es so weit ist.
       
       Wer nach Mekka reisen will, kommt automatisch in die Hafenstadt Dschidda (4
       Millionen Einwohner, davon 840 000 Ausländer) am Ufer des Roten Meers. Mit
       ihrer 30 Kilometer langen Uferpromenade, der Corniche, der Altstadt
       al-Balad, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, ihren Freiluftskulpturen und
       Restaurants, die Gerichte aus aller Welt servieren, ist sie zweifellos die
       faszinierendste – und am wenigsten konservative – Stadt Saudi-Arabiens.
       
       ## Es brodelt in der Gesellschaft
       
       Auch hier sind die Alleen überdimensioniert, und es gibt viel zu viele
       Einkaufszentren. Frauen können sich so frei bewegen wie nirgendwo sonst im
       saudischen Königreich. Die Abayas sind oft beige, blau, hellgrau, mit
       Perlen besetzt, und haben Reißverschlüsse. Man sieht vielen Frauen an, dass
       sie beim Schönheitschirurgen waren oder sich zumindest Botox spritzen
       lassen. Hier spürt man, dass es in der Gesellschaft brodelt.
       
       Außerdem gibt es in Dschidda schon lange eine lebendige Kunstszene. Drei
       Monate vor der offiziellen Wiedereröffnung des ersten Kinos in Riad wurde
       im Dschiddaer Kulturzentrum Arbab al-Heraf der Film „Mariam“ gezeigt.
       Darin geht es um eine französische Jugendliche, die in der Schule Kopftuch
       tragen möchte, obwohl das Gesetz es verbietet. Rund 60 Jugendliche
       beiderlei Geschlechts besuchten die Vorführung in diesem einzigartigen
       Kulturcafé, das 2017 von einem jungen Mann eröffnet wurde, der aus
       Australien zurückgekehrt war.
       
       Die Regisseurin Faizah Ambas berichtet, sie sei „verblüfft“ gewesen über
       die Äußerungen der jungen Leute in der anschließenden Diskussion: „Sie
       haben sich getraut, vor Fremden über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen.
       ,Mein Freund hat mich verlassen, weil ich keinen Hidschab tragen wollte',
       erzählte eine junge Frau. Eine andere berichtete genau das Gegenteil: Ihr
       Freund wollte nicht, dass sie den Hidschab trug.
       
       ## Von Traditionen erdrückt
       
       Eine dritte sagte: ,Ich bin Christin‘ [in Saudi-Arabien ist es verboten,
       eine andere Religion als den Islam zu praktizieren]. In dem Augenblick
       stand ein Junge von vielleicht 20 Jahren auf und sagte: ,Ihr Film handelt
       letztlich davon, dass man den anderen akzeptieren soll, und das fehlt bei
       uns.' “
       
       2006 hat Rajaa Alsanea mit ihrem Roman „Die Girls von Riad“ einen Skandal
       ausgelöst. In Form eines Blogs erzählen darin vier Freundinnen von ihrem
       Leben und ihren Liebesbeziehungen. Es ist nichts Schockierendes, nur der
       Alltag von Frauen, die von den Traditionen erdrückt werden. Das Buch
       erschien zuerst im Libanon und verbreitete sich unter der Hand rasch in
       Saudi-Arabien.
       
       2015 erschien „Zwei Frauen aus Dschidda“. Die Autorin Hanaa Hijazi ist
       Ärztin. Auch dieses Buch erschütterte die Gesellschaft, wurde aber nicht
       zensiert. In dem Roman zerbrechen zwei Freundinnen an den Verboten und
       begehen schließlich Selbstmord. Er wurde viel gelesen und wohlwollend
       aufgenommen, „auch von Männern“, wie die Autorin betont. Viele Leserinnen
       kritisierten nur den tragischen Ausgang. „Sie hätten sich ein anderes Ende
       für die beiden Protagonistinnen gewünscht, das hat mich gefreut. Sie können
       sich also auch andere Perspektiven für Frauen vorstellen.“
       
       ## „Schlimmer denn je“
       
       Dass Frauen künftig Auto fahren dürfen, hat für Lina al-Maeena vor allem
       symbolische Bedeutung: „Wir können unser Leben selbst lenken und, warum
       nicht, eines Tages vielleicht das Land.“ Für die 40-Jährige, die an die
       Emanzipation durch Sport glaubt, gibt es keine Hindernisse. Vor zwölf
       Jahren hat sie die erste Frauenbasketballmannschaft gegründet, damals war
       Sport für Frauen noch verboten. Heute sitzt sie in der Beratenden
       Versammlung. Seit einem Jahr ist Sportunterricht für Mädchen an den
       öffentlichen Schulen verpflichtend. Es ist fraglich, ob es ein Zeichen der
       Öffnung oder eine medizinische Notwendigkeit ist. Der
       Weltgesundheitsorganisation zufolge sind fast 70 Prozent der saudischen
       Frauen übergewichtig, 40 Prozent davon adipös.
       
       Der Modernisierungsprozess lässt sich wahrscheinlich kaum noch aufhalten.
       Allein aus ökonomischen Gründen ist die Integration von Frauen in den
       Arbeitsmarkt unumgänglich. In der Politik sieht es jedoch ganz anders aus.
       Jedenfalls ist in den Verlautbarungen des Kronprinzen nie von
       Demokratisierung die Rede. Kommunalwahlen sind die einzigen Wahlen im
       Königreich.
       
       Eine Journalistin meint: „Im Ausland stellt man MBS als jungen Prinzen dar,
       der Reformen will und die Korruption bekämpft. Aber die Unterdrückung ist
       härter denn je.“ Als Frau habe sie zwar mehr Freiheiten, doch die
       Meinungsfreiheit für alle werde stärker eingeschränkt. „Ich habe keine
       Angst mehr, wenn ich auf der Straße unterwegs bin, aber ich habe Angst,
       mich offen zu äußern. Ich fürchte, die Willkür ist schlimmer denn je.“
       
       Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
       
       7 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Florence Beaugé
       
       ## TAGS
       
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