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       # taz.de -- Culture Clash im Indischen Ozean: Was verbindet uns mit anderen?
       
       > Roulèr-Trommeln, Future-Kwaito und ein japanisches Spaceship: Eindrücke
       > von der IOMMA-Musikmesse und dem Sakifo-Festival auf La Réunion.
       
   IMG Bild: Ein Mann mit Selbstironie und Stil: MC Kommanda Obbs aus Lesotho
       
       Mächtige Trommelschläge, so tief wie das Grollen der tropischen Gewitter,
       die über La Réunion hinwegziehen. Diese Roulèr-Trommeln gehören auf dem
       kleinen Vulkaneiland im Indischen Ozean von jeher zur Maloya-Musik. Beim
       Auftritt der Band [1][Lindigo] zum Indian Ocean Music Market (IOMMA) hallen
       die tiefen Bässe einer Roulèr durch das Teátre Luc Donat.
       
       Es ist noch gar nicht so lange her, da wäre ein solcher Ort der Hochkultur
       für ein Maloya-Konzert undenkbar gewesen. Denn noch bis Ende der 1970er
       Jahre wurden diese zunächst auf den Zuckerrohrfeldern von Sklaven aus
       Afrika gesungenen Klagelieder von den französischen Autoritäten
       unterdrückt.
       
       Der rebellische Maloya wurde von der Kommunistischen Partei Réunions
       unterstützt und galt als Ausdruck des Kampfes für die Unabhängigkeit von
       Frankreich. „Früher konnte Maloya nur versteckt bei Zeremonien im privaten
       Rahmen praktiziert werden“, sagt der Lindigo-Sänger Olivier Araste. „Dass
       wir immer noch das Kreolische statt des Französischen benutzen, ist aber
       ein Zeichen unserer eigenen Identität.“
       
       Wie sich der Maloya seit den Achtzigern ausdifferenziert hat, zeigt sich
       bei den Messe-Showcases und dem Sakifo Festival direkt danach: von der
       Sängerin Maya Kamaty (Nu Maloya) und Bands wie Labelle und Sofaz (Electro
       Maloya) bis hin zur Anfang sechzigjährigen Diva [2][Nathalie Nathiembé]. In
       einem grün schimmernden Kostüm legt die Nina Hagen Réunions ein
       Art-Rock-Set mit düsteren Texten hin, die von Schizophrenie und ihrer Angst
       vorm Tod handeln.
       
       Für La Réunion ist der IOMMA wichtige Gelegenheit zum Vernetzen, mit Blick
       auf den weiten Raum des Indischen Ozeans. Geladen sind überwiegend Gäste
       aus dem Musikgeschäft Afrikas und Asiens, in beiden Kontinente wachsen die
       Märkte. Und die Vielvölkerinsel Réunion, die schon geografisch zwischen den
       Welten liegt und auf der Menschen aus drei Kontinenten leben, ist für ein
       solches Treffen tatsächlich kein schlechter Ort.
       
       ## Réunion gehört zur EU
       
       Die Frage der Unabhängigkeit spielt heute keine Rolle mehr – auch weil die
       Bewohner des französischen Überseedepartements von den finanziellen
       Zuwendungen aus Europa profitieren. So kommt es einem im beschaulichen
       Strandort St. Pierre ziemlich „francy“ vor.
       
       Bezahlt wird mit Euro, es gibt schicke Bistros, kaum Straßenkriminalität,
       und sogar das Leitungswasser kann man bedenkenlos trinken. Die Insel gehört
       zu Frankreich – und damit zur EU. Folglich gibt es mittlerweile mehrspurige
       Schnellstraßen, jeder, der es sich leisten kann (es sind zu viele), fährt
       ein Auto, und Staus sind häufig.
       
       Erstaunlich ist, wie höflich und respektvoll die Menschen nach dem ersten
       Eindruck miteinander umgehen. Das ist wohl auch ein Verdienst der
       eigentümlichen „métissage“. Menschen mit Wurzeln in Mosambik und
       Madagaskar, Frankreich und Indien, darunter Muslime, Hindi und Christen,
       haben sich entweder vermischt oder leben weitgehend friedlich zusammen.
       
       Der Muezzin der Moschee ist mehrfach am Tag zu hören, um die Ecke liegt ein
       Hindu-Tempel, und in den Restaurants stehen Gerichte mit Curry, Mango und
       Ingwer auf der Karte.
       
       Das zieht auch Einwanderer wie Guillaume an. Der Festlandfranzose lebt seit
       zwanzig Jahren auf Réunion – fast die Hälfte seines Lebens. Seine Frau ist
       eine schwarze Kreolin aus Mauritius. Einer ihrer Söhne sehe wie ein junger
       Marokkaner aus, sagt Guillaume, der andere mit seinem blonden Haar wie ein
       kleiner Schwede. „Wenn ich meine Söhne frage, welche Hautfarbe einer ihrer
       Freunde hat, wissen die keine Antwort.“ Weil alle unterschiedlich aussehen,
       habe das einfach keine Bedeutung mehr.
       
       Unwillkürlich kommt einem hier Achille Mbembe in den Sinn. Der kamerunische
       Philosoph sieht in mehr Gemeinschaft und Solidarität statt ausgrenzender
       Identitätspolitiken den einzigen Ausweg: „Die entscheidende Frage unserer
       Zeit ist ja, was uns mit anderen verbindet, die nicht ’wir’ sind. Denn
       eigentlich sind ja alle von den gleichen Problemen betroffen.“
       
       Ist Réunion nun eine Art Trauminsel der „Hybridité“ unter Palmen?
       Selbstverständlich nicht, sagt der Rapper Axel Sorres. Rund ein Drittel der
       Bevölkerung ist ohne Arbeit, viele leben von Sozialhilfe – was laut Sorres
       seinen Preis hat: „Damit erkauft sich Frankreich das Schweigen der Leute.“
       Auch die Dichterin und Sängerin Kaloune beschäftigt sich mit ihrer
       kreolischen Identität und den Schattenseiten ihrer Heimat.
       
       „Schwarze und dunkelhäutige Kreolen sind in vielen gesellschaftlichen
       Bereichen immer noch weitgehend unsichtbar“, sagt die
       Spoken-Word-Künstlerin nach ihrem Konzert zum IOMMA-Auftakt. Kalounes Song
       „Tapoulang“ hat auf La Réunion für einige Aufregung gesorgt. Übersetzt aus
       dem Kreolischen bedeutet der Titel „Vagina“. „Ich spreche von der Kraft,
       die ich in mir spüre, denn über weibliche Sexualität wird bei uns sonst
       immer noch nicht offen geredet“.
       
       ## Zeitgemäßer Sound und Stil
       
       Kämpferische, selbstbewusste Frauen treten auffallend viele auf – neben
       Kaloune und der indonesischen Rapperin Yacko auch die Sängerin [3][Nonku
       Phiri]. Die zierliche Frau mit der glasklaren Stimme gehört zur
       vibrierenden elektronischen Musikszene Südafrikas.
       
       Im Herbst wird Phiri mit ihrem Partner Dion Monti das erste Album mit ihrem
       experimentellen R&B-Elektro veröffentlichen: „Um die Unabhängigkeit zu
       behalten auf unserem eigenem Label Black Albino. Dort will ich auch andere
       junge Musiker rausbringen, die unnötigerweise Mainstream-Produktionen
       machen, obwohl ihr eigener Sound global Wellen schlagen könnte.“
       
       Ohnehin kommen Sound und Stil am Puls der Zeit bei der IOMMA-Messe aus dem
       südlichen Afrika: [4][Kommanda Obbs] aus Lesotho mit teils selbstironischen
       Raggamuffin, dessen Band traditionelle Basotho-Umhänge wie Hoodie-Ponchos
       trägt.
       
       Oder die südafrikanische Tänzerin und Sängerin [5][Dear Ribane] mit einer
       Future-Kwaito-Choreografie, bei der sie und ihre zwei wie nach einem
       Störfall in orange Plastikanzüge gezwängte Tänzer sich so roboterhaft wie
       anmutig bewegen – eine abgedrehte afrofuturistische Weiterentwicklung des
       Mapantsula-Tanzes.
       
       Inspirierend sind auch die Gespräche, die sich bei der Messe ergeben. Die
       vier schüchternen Jungs vom kenianischen DJ-Produzenten-Team EA Wave, die
       einen angenehmen Lowtempo-Gig spielen, erzählen etwa von der wachsenden
       DIY-Szene in der anstrengenden Metropole Nairobi, die der allgemeinen
       Hustler-Mentalität in einem korrupten System etwas Gemeinsinn
       entgegenzusetzen versucht. Sie haben schnelles Internet, aber kaum Geld.
       Dafür tauschen sie ihr Know-how und Dienstleistungen untereinander.
       
       In der mosambikanischen Band des Sängers Isaú Meneses stößt dagegen die
       einzige Frau der Gruppe eine Debatte darüber an, wo sexuelle Belästigung
       beginnt. Die Diskussion verläuft ähnlich einsichtig und political correct
       wie im Normalfall bei uns auch, nur dass dabei mehr gelacht wird.
       
       Zum Abschied nach nur zwei Tagen auf der Insel umarmen die liebenswerten
       Bandmitglieder sogar die Messe-Sicherheitskräfte. Das ist einer der
       Momente, in dem einem bewusst wird, wie privilegiert man selbst ist, wo man
       doch über eine Woche bleibt.
       
       Denn im Anschluss an die IOMMA-Messe geht es unmittelbar mit dem Sakifo
       Festival weiter. Auf fünf Bühnen präsentieren sich drei Tage lang Musiker
       aus Réunion und dem Ausland – darunter Größen wie die tamilisch-britische
       Rapperin M.I.A.
       
       Ihr Hey-Ho-Shouting ist allerdings ähnlich enttäuschend wie die kitschige
       Hommage an Cesaria Evora zum Auftakt, bei der mehrere Interpreten, darunter
       Lura und der charismatische Hip-Hop-Chansonnier Gaël Faye, die Lieder der
       barfüßigen Diva von den Kapverden covern – zur vom Band zugespielten Stimme
       Cesarias.
       
       ## Death-Metal-Soundgewitter
       
       Gelungener ist da die Show Nathalie Nathiembés, die sich schon am Vorabend
       von ihrer Punk-Seite präsentiert hatte: Mit dem von den Komoren stammenden
       Sänger und Gitarristen Mounawar produzierte sie unter dem Projektnamen
       Pigment ein ohrenbetäubendes Death-Metal-Soundgewitter voller Verzerrungen
       und Rückkopplungen.
       
       Auch der Gig Flavia Coelhos überrascht: Nur von ihrem DJ begleitet nimmt
       die in Paris lebende brasilianische Global-Pop-Sängerin einen mit auf eine
       Reise in ihre eigene Kindheit zu Rootsreggae und Dancehall. Denn
       aufgewachsen ist Coelho in Maranhão, jenem Bundesstaat im Nordosten
       Brasiliens, in dem die Soundsystemkultur Jamaikas bis heute gepflegt wird.
       
       Und mit gewaltigen Boxen bestückte Lastwagen sind nicht etwa eine Erfindung
       der Loveparade, wie man glauben mag: Im Hinterland Maranhãos sind durch die
       Provinz tingelnde mobile Anlagen schon seit Jahrzehnten als „Trio
       Elétricos“ bekannt.
       
       Auf einem Trip zwischen Tradition und Innovation neue Horizonte zu öffnen
       bleibt schließlich einer Gruppe aus Japan vorbehalten: die [6][Oki Dub Ainu
       Band]. Sänger Oki Kano von der Insel Hokkaido im Norden Japans – der Heimat
       der Indigenen Ainu – spielt ein traditionelles Saiteninstrument, die
       zitherartige Tonkori, wie eine psychedelische Gitarre.
       
       Zwischendurch wird der Auftritt zum Höllenritt, wenn Kano das Publikum
       minutenlang mit seiner kratzigen Stimme quält, während Bass und Drums eine
       brachiale Rhythmuswand aufbauen – bevor Kano das japanische Dub-Spaceship
       im Wechselspiel mit seinem irren Keyboarder wieder in entspanntere Bahnen
       lenkt.
       
       Hatte man vorher den Eindruck, nur wenige überzeugende Acts aus dem
       asiatischen Raum gesehen zu haben, ist es die Oki Dub Ainu Band, der am
       Ende der Brückenschlag von La Réunion quer über den Indischen Ozean in den
       Fernen Osten gelingt.
       
       11 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=iAnwC0XcbEE
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=9DFRuZ5r_rk
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=S3bHRqNsBm0
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=6BwSiLhqv-s
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=7izLi7nrRxc
   DIR [6] https://www.facebook.com/ole.schulz.9/videos/10155541824893587/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ole Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Musikfestival
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