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       # taz.de -- Neues Album von Kamasi Washington: Die ganze Welt als Mikrokosmos
       
       > „Heaven and Earth“ heißt die neue Platte von Kamasi Washington. Sie
       > unterstreicht die Ausnahmestellung des kalifornischen Jazzsaxofonisten.
       
   IMG Bild: Ein bisschen Heiland, ein bisschen Afro: Kamasi Washington
       
       Auf der Hotelcouch sitzt der hipste Jazzmusiker der Welt. Ein großer,
       massiger Mann in weitem, beigefarbenem Hemd, klobige Sonnenbrille, an jeder
       Hand drei schwere Ringe. So sieht der Anführer einer musikalischen
       Revolution aus, wenn man der US-Presse Glauben schenken mag.
       
       Zwar hat es Kamasi Washington in seiner Heimat mit seinem Debütalbum nur in
       der Jazzkategorie in die Top10 der Charts geschafft, doch in Deutschland
       gab es dafür 2016 Platin: die Auszeichnung für mehr als 200.000 verkaufte
       Einheiten. Absolute Sensation für einen Jazzmusiker, zumal „The Epic“ ein
       dreistündiges Album zwischen Post-Bop, Spiritual Jazz und Soul ist, bei dem
       10-Minuten-Tracks mit großer Orchesterbesetzung und Gospelchor Standard
       sind. Nun, wo das zweite Album des Saxofonisten aus Los Angeles ansteht,
       drängt sich sofort eine Frage auf: Was hat er anders gemacht als all die
       anderen ehrgeizigen Künstler, um dem dahinsiechenden Genre Jazz so viel
       Gegenwart einzuhauchen?
       
       Nicht die Musik habe sich verändert, sagt der 37-Jährige, der im Gespräch
       gemütlich wirkt, sondern die Haltung des Publikums: „Als ich anfing, gab es
       kaum Jazzclubs. Wir spielten zu acht in einem HipHop-Laden auf einer Bühne
       für einen DJ, kaum breiter als die Couch hier. Das Publikum hat es geliebt,
       aber die Leute wussten gar nicht, dass es solche Musik überhaupt gab. Sie
       hatten einfach nicht danach gesucht.“
       
       ## Erfolg bei der HipHop-Crowd
       
       Die HipHop-Crowd war entscheidend für Washingtons Erfolg. Nach mehr als
       einem Jahrzehnt als Session- und Livemusiker, etwa für Erykah Badu und
       Snoop Dogg, machte die Kooperation mit Flying Lotus auf dessen Album
       „You’re Dead!“ und wenig später die mit Kendrick Lamar auf „To Pimp a
       Butterfly“ Washington über Nacht zum gefragtesten US-amerikanischen
       Saxofonisten. Fortan konnte er sich ganz seinem eigenen Universum widmen.
       
       Himmlische Eingebungen, irdisch orchestrale Arrangements und gülden
       glänzende Gewänder – „Heaven and Earth“ heißt das neue Opus. Unter solch
       assoziationsschweren Begriffen macht es der Saxofonist nicht. Das
       Albumcover zeigt ihn kerzengerade mit seinem Instrument posierend,
       erlösergleich über einem See schwebend. Der Blick ist ernst, der Afro
       wuchert, nur die quietschbunten Turnschuhe deuten an, dass hier jemand
       womöglich den Jazzbegriff nicht mit der Strenge eines Bebop-Lehrers
       auslegt.
       
       Washington ist noch immer der John-Coltrane-Jünger und
       Pharoah-Sanders-Schüler. Die Musik dieser Jazzgrößen der Sechziger Jahre
       hat ihn entscheidend geprägt, seine ausufernden Soli klingen zuweilen wie
       sorgfältige Reproduktionen. Der gebürtige Angeleno ist vor allem ein Kind
       der späten Achtziger. Als Teenager produzierte er HipHop-Beats im Stile von
       N.W.A., erst mit 13 Jahren spielte er zum ersten Mal Saxofon. Kamasi
       Washington wuchs in Inglewood nahe South Central L. A. auf.
       
       ## In der Garage gejammt
       
       In Inglewood werde alles eins, sagt Washington, der seinen Bassisten
       Thundercat schon aus dem Sandkasten kennt. „Als Teenager war ich mit den
       Mitgliedern meiner Band The West Coast Get Down befreundet. Wir haben von
       morgens bis abends gespielt, uns in Konzerte reingeschlichen und in meiner
       Garage gejammt. Wir waren einfach überall unterwegs – in der Jazz- wie auch
       in der Rock- und HipHop-Szene. Denn L. A. ist die ganze Welt als
       Mikrokosmos.“
       
       All diese Einflüsse hört man „Heaven and Earth“ an, auch wenn sich im
       Klangdesign weder Beats noch Raps finden, was das Album von denen seiner
       alten Buddies Thundercat und Flying Lotus unterscheidet. Geadelt durch die
       Coolness solcher Kumpels, wird Washingtons Band mit ihrem durch eine
       Clubmentalität getunten Sixties-Jazz inklusive minutenlanger Bläsersoli nun
       sogar von partyfreudigen Mittzwanzigern goutiert.
       
       Erstaunt es den Leader nicht, dass sein Publikum so jung ist? „Ich glaube
       nicht daran, dass die Kids von heute kurze Aufmerksamkeitsspannen haben.
       Die binge-watchen doch auch eine ganze Serie an zwei Tagen. Es geht darum,
       die Leute dieser Musik auszusetzen.“ Auch für „Heaven and Earth“ wird der
       Saxofonist bereits gefeiert: Das Album sei ein neuer
       Spiritual-Jazz-Klassiker, der die Jazzgeschichte zeitgemäß einrahme,
       jubelte das britische Mojo Magazine.
       
       ## Melodiös wie einst Duke
       
       Tatsächlich sind Kamasi Washingtons Songs wenig revolutionär. Ihre Struktur
       ähnelt in der Tat einer Form von melodiösem Jazz, wie ihn Duke Ellington
       bereits seit den zwanziger Jahren geprägt hat: Thema, Solo, Zwischenspiel,
       Solo, Solo, Thema. So weit, so vorhersehbar. Wenn auf der achten von acht
       Vinylseiten, nach mehr als zwei Stunden Power-Soul-Post-Bop, der triumphale
       13-köpfige Gospelchor und das cineastisch anmutende 26-köpfiige Orchester
       in „Show Us the Way“ und „Will You Sing“ erneut zum Schlussakkord ansetzen,
       ist der Hörer mürbe.
       
       Hätte der Bandleader auf „Heaven and Earth“ sein Erfolgsrezept nicht
       wenigstens ein bisschen variieren können? „Nun, ich hätte diese Songs auch
       mit Quartettbesetzung aufnehmen können. Ich hätte neue Musiker anheuern
       können. Viele Momente meiner Karriere haben weit weg von zu Hause
       stattgefunden. Die Möglichkeit, mit meinen Jungs Musik zu machen, ist da
       schöner. Zumal wir eine gemeinsame Sprache als Band sprechen. Ich diene nun
       mal der Musik und versuche, ihr keine Richtung aufzuzwingen.“
       
       Was Washingtons Kompositionen von denen wertkonservativer Zeitgenossen
       wie Wynton Marsalis oder Joshua Redman abhebt, ist ihre schiere Kraft. Es
       sind nicht einmal Chor und Streicher, die den Unterschied ausmachen.
       Washington hat die Besetzung eines herkömmlichen Jazzquartetts einfach
       verdoppelt und seinen Songs damit doppelte Power verliehen. The West Coast
       Get Down besteht im Kern aus einem akustischen und einem elektrischen Trio,
       plus Saxofon respektive Posaune.
       
       Wie Miles Mosley, der Typ mit dem metallenen Armreifen, seinen Bass
       malträtiert und dessen Klang mit Effektgeräten verfremdet, ist ein
       Erlebnis. Auf „Heaven and Earth“ hält sich der Bassist vornehm zurück,
       seine Hendrix-artigen Soli hebt er sich für Konzerte auf. Ähnlich Stephen
       Bruner, der nur in der lockeren Souljazz-Nummer „The Invincible Youth“ solo
       spielen darf. Der Mann mit dem bunten Haarschopf, der als Thundercat seine
       Vorliebe für Seventies-Soulpop mit frickligem Fusion Jazz auslebt, spielt
       im elektrischen Trio zusammen mit Bruder Ronald Bruner an den Drums.
       
       ## Referenz an Amiri Baraka
       
       Es ist eine Band, die obendrein politisch wirkt: Gleich im Auftaktsong
       „Fists of Fury“ besingt Patrice Quinn die heilende Kraft ihrer Hände, die,
       konfrontiert mit Ungerechtigkeiten, zu wütenden Fäusten werden. Sänger
       Dwight Trible klingt verblüffend nach Malcolm X, wenn er mit verzerrter
       Sprechstimme fordert: „We Will No Longer Ask For Justice / We Will Take Our
       Retribution.“ Der Ruf nach Vergeltung wird im Video zum Song bekräftigt.
       Hier treten drei Soldaten vor einer Art arabischen Revolutionsfahne auf,
       bekleidet mit einer „Nation Time“-Schärpe – ein direkter Bezug auf den
       afroamerikanischen Aktivisten Amiri Baraka. Dessen Ausruf „Come out Niggas,
       it’s Nation Tiiiime“ schmückte in den frühen Siebzigern so manches
       Teach-in. „Nation Time“ wurde zur Black-Power-Catchphrase.
       
       „Mein Lieblingsfilm von Bruce Lee heißt ‚Fist of Fury‘“, erläutert
       Washington. „Aber der Grund, warum das Album mit diesem Titel beginnt, ist
       ein anderer. Es mag naiv klingen, aber ich weiß, dass das Leben ein Kampf
       ist. Eine endlose Anstrengung. Als Gesellschaft sind wir am Scheideweg: Es
       kann in die eine oder die andere Richtung gehen. Es braucht den Kampf, um
       das menschliche Potenzial für Veränderung zu erkennen.“
       
       Im Finale lässt Washington den Chor eine rhetorische Frage stellen: „If My
       Band Could Change These Things For Good / Will You Sing?“ Musikalisch mag
       Kamasi Washington ein Bewahrer sein, der dem Erbe der Sechziger mit der
       Kraft des doppelten Quartetts zu neuer Anerkennung verhilft.
       Gesellschaftlich knüpft er an den revolutionären Geist der Siebziger an.
       Die Fäuste sind gereckt.
       
       25 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Paersch
       
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