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       # taz.de -- Interview Flüchtlingsretter im Mittelmeer: „Im Einsatz funktioniert man“
       
       > Hendrik Simon aus Bremen ist seit zwei Jahren auf Schiffen unterwegs, die
       > das Meer nach Geflüchteten absuchen.
       
   IMG Bild: Im Einsatz: Hendrik Simon
       
       taz: Herr Simon, was ist das für ein Gefühl, mit dem Rettungsschiff im
       Mittelmeer unterwegs zu sein? 
       
       Hendrik Simon: Ich finde es sehr bedrückend und erschreckend. Natürlich ist
       es ein schönes Gefühl, zu helfen. Aber es ist tragisch, dass wir das tun
       müssen und dass es keine sicheren Einreisewege für die Menschen gibt. Das
       sind Extremsituationen, die wir da erleben.
       
       Ist die Arbeit auf dem Schiff so, wie Sie es erwartet hatten? 
       
       Ich habe mich vor meinen Einsätzen gut vorbereitet. Es war so, wie ich es
       mir ungefähr vorgestellt hatte. Die Realität ist dann aber trotzdem immer
       noch schlimmer. Die Arbeit im Einsatzgebiet ist extrem anstrengend, weil
       2016 und 2017 sehr, sehr viele Boote gekommen sind – oft auch alle auf
       einmal. Wenn das Wetter gut war, dann waren es an harten Tagen 20, 30,
       teilweise sogar 40 Boote, um die wir uns mit anderen Schiffen zusammen
       gekümmert haben. Da kommt man an eine Leistungsgrenze. Ich war teilweise 22
       Stunden unterwegs und bin von Boot zu Boot gefahren.
       
       Wie sind Sie dazu gekommen, als Retter zu arbeiten? 
       
       Ich habe mitbekommen, wie [1][Sea Watch] sich gründet und für mich war von
       Anfang an klar: Ich will das machen. Ich habe überlegt, ob ich mich
       bewerben soll, aber war mir nicht sicher, ob meine Fähigkeiten reichen. Ich
       kannte ein paar Leute von der Organisation [2][Cadus]. Die wussten, dass
       ich ganz gut Boot fahren kann und haben mich dann gefragt. Die
       Hilfsorganisationen sind alle gut vernetzt. Meine ersten Missionen bin ich
       mit Cadus und [3][Jugend Rettet] gefahren und mein erster Einsatz mit Sea
       Watch war dann dieses Jahr im April und Mai.
       
       Wo waren Sie im Einsatz? 
       
       In der [4][Search-and-Rescue-Zone] vor der libyschen Küste. Wir sind in der
       Regel an der 24-Meilen-Grenze unterwegs. Bis zwölf Meilen von der Küste ist
       libysches Hoheitsgebiet und dazwischen ist eine Anschlusszone. Wir fahren
       von Malta aus dahin. Das sind ungefähr 24 Stunden Fahrt. Und da
       patrouillieren wir dann. Wir suchen aktiv nach Booten in Seenot und
       übernehmen auch Einsätze, die uns von der Seenotrettungsleitstelle Rom
       gemeldet werden. Die teilen uns dann mit, welche Farbe das Boot hat, wie
       viele Leute darauf sind und so weiter.
       
       Was tun Sie dann, um den Menschen zu helfen?Bei meinen ersten Einsätzen mit
       Cadus und Jugend Rettet war ich auf kleineren Schiffen unterwegs. Da haben
       wir die Geflüchteten nur temporär aufgenommen und auf andere Schiffe
       gebracht. Bei meinem Einsatz in diesem Jahr, mit der [5][„Seawatch 3“], war
       das anders. Da haben wir die Menschen bis nach Italien gebracht. Aber eins
       läuft immer gleich ab: Wenn wir ein Boot sehen, fahren wir hin und machen
       eine Ersteinschätzung zum Zustand des Bootes. Es kann schnell passieren,
       dass die Schläuche Luft verlieren. Dann müssen wir sehr schnell handeln.
       Wir teilen als erstes Rettungswesten aus und kümmern uns danach um
       Schwerverletzte.
       
       Kommt es oft so weit? 
       
       Ja, das kommt vor. Die Menschen werden in Libyen teilweise auf diese Boote
       getrieben. Die Situation dort ist echt beschissen für die Menschen, aber
       sie haben auch keine andere Wahl. Auf den Booten sind Massen von Menschen.
       Da gibt es Kreislaufzusammenbrüche, manche haben Schusswunden oder
       dehydrieren. Und ganz viele haben stark verätzte Beine. Die Boote haben
       halb offene Benzinkanister und da schwappt Benzin raus. Das mischt sich mit
       dem Salzwasser im Boden des Bootes und bildet eine Säure. In der Mitte
       sitzen vor allem Frauen und die haben, wenn wir sie aufnehmen, manchmal so
       starke Verätzungen, dass man die Haut komplett abziehen kann. Das habe ich
       selbst auch schon einmal miterlebt.
       
       Fühlen Sie sich solchen Situationen immer gewachsen? 
       
       Im Einsatz funktioniert man. Da macht man das, was notwendig ist. Hinterher
       mache ich mir natürlich meine Gedanken und wir reden darüber, was da
       eigentlich passiert. Bei Sea Watch und anderen Organisationen gibt es auch
       eine psychologische Nachbetreuung. Das ist sehr wichtig.
       
       Wie ist es für Sie, nicht zu wissen, wie es nach der Rettung mit den
       Menschen weitergeht?Wenn wir die Menschen bis nach Italien bringen, dann
       haben wir viel Kontakt zu ihnen. Wir versuchen immer, ihnen ein gutes
       Gefühl zu geben, uns mit ihnen auszutauschen und ihre Geschichten
       anzuhören, wenn sie sie erzählen wollen. Meistens wollen sie das. Die
       Geschichten sind sehr bedrückend. Ich habe zum Beispiel Foltergeschichten
       aus Libyen gehört. Das ist hart, sich das alleine anzuhören. Wenn die
       Menschen dann von Bord gehen, ist es jedes Mal wieder ein Abschied.
       
       Was war das Schlimmste, das Sie im Mittelmeer erlebt haben? 
       
       Es gab viele sehr, sehr schlimme Situationen, die vor allem mit Leichen zu
       tun hatten. Das Erbärmlichste, was ich erlebt habe, war der Streit um eine
       Wasserleiche. Wir haben die im Wasser entdeckt und uns entschieden, sie an
       Bord zu nehmen und einem anderen Schiff zu übergeben. Die Person gehörte
       wahrscheinlich zu einem anderen Seenotfall und dann haben sich Italien und
       Malta darum gestritten, wer sie denn jetzt nimmt. Keiner wollte und dann
       haben sie gesagt, ruft doch die libysche Küstenwache, die ist sowieso näher
       dran. Das fand ich total erschreckend. Am Ende hat Italien die Leiche dann
       aufgenommen, weil wir herausgefunden haben, dass sie zu einem sinkenden
       Schlauchboot gehörte, für das die Rettungsleitstelle Rom die Verantwortung
       übernommen hatte. Der Fall hat für mich dieses Drücken um Verantwortung
       noch mal sehr auf den Punkt gebracht.
       
       … wie beim Rettungsschiff „Aquarius“?
       
       Ja. Die Ereignisse mit der [6][„Aquarius“] waren auf jeden Fall noch mal
       eine Steigerung. Anscheinend macht die italienische Regierung Ernst und
       will die Häfen für NGOs schließen. Das ist eine große Katastrophe, weil die
       Menschen in den nächsten sicheren Hafen gebracht werden müssen und das ist
       nicht Nordafrika. Meist ist es Italien. Man könnte drüber streiten, warum
       Malta sich da rauszieht, aber dass die Leute nach Spanien fahren, ist
       einfach keine Option.
       
       Warum? 
       
       Vier Tage pro Weg sind eine Riesenstrapaze für die Menschen, die eh schon
       ausgelaugt und am Ende ihrer Kräfte sind. Das ist völlig sinnlos. Außerdem
       fehlen die Schiffe dann eine lange Zeit in dem Gebiet vor Libyen. Ich
       hoffe, das ändert sich in nächster Zeit wieder, aber ich habe wenig
       Hoffnung. Das Problem ist auch, dass Italien von den anderen EU-Staaten
       jahrelang [7][im Stich gelassen] wurde, dabei ist die Seenotrettung dort im
       Mittelmeer eine europäische Verantwortung.
       
       Hat sich Ihr Blick auf die Dinge durch Ihre Einsätze geändert? 
       
       Für mich war es ein Realitätsabgleich und es hat das Ganze persönlicher
       gemacht. Ich habe die Menschen kennengelernt und Bilder aus dem Mittelmeer
       im Kopf, die ich sonst nicht gehabt hätte. Aber an meiner politischen
       Einschätzung der Lage hat sich nicht viel geändert, die war schon klar.
       
       Welche Unterstützung wünschen Sie sich für Ihre Arbeit? 
       
       Aktuell sind zu wenig Schiffe da. Das liegt daran, dass die Politik unsere
       Arbeit massiv behindert. Eigentlich sollten professionelle Rettungskräfte
       vor Ort sein. Nicht, weil die das unbedingt besser machen würden als wir,
       aber eigentlich ist die Seenotrettung staatliche Aufgabe. Wir sind dahin
       gegangen, weil wir die Notwendigkeit gesehen haben – insbesondere nach dem
       Einstellen der Mission [8][„Mare Nostrum]“, die die italienische Marine und
       Küstenwache 2013 bis 2014 zur Rettung Geflüchteter im Mittelmeer betrieben
       hatten. Da ertrinken Leute und Europa schaut weg. Wenn keine Kameras vor
       Ort sind, kriegt es niemand mit. Uns ist es deswegen auch wichtig, mit
       Bildern Öffentlichkeit zu schaffen.
       
       Haben Sie jemals gedacht, Sie schaffen das nicht mehr und müssen aufhören? 
       
       Nein, ich habe mich nie gefragt, ob ich aufhören soll. Für mich war immer
       klar, dass ich weitermache, solange es nötig ist.
       
       Wann geht es für Sie wieder los? 
       
       Ende des Sommers fahre ich für zwei Missionen mit Sea Watch raus – wenn es
       weiterhin möglich ist.
       
       27 Jun 2018
       
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   DIR [5] https://sea-watch.org/das-projekt/sea-watch-3/
   DIR [6] /!5513585/
   DIR [7] /!5510585/
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