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       # taz.de -- Kommentar Mögliches WM-Aus: Du, deutscher Fan, sei kein Arsch
       
       > Was, wenn Deutschland ausscheidet? Sich großartig fühlen kann jeder. Mit
       > einer Niederlage umgehen zu können, ist souverän.
       
   IMG Bild: Oft als „Helden“ gefeiert, nun in der öffentlichen Wahrnehmung die Deppen: Müller, Özil, Khedira
       
       Alle Kultur entspringt dem Scheitern. Größe kommt nur aus dieser Haltung,
       als Spieler und als Fan. Sich nach einem Sieg großartig fühlen kann jeder;
       eine Akzeptanz zu entwickeln aus dem, was Du bist, das ist Souveränität.
       Das ist Unabhängigkeit von Fremdprojektionen. Das ist Haltung.
       
       Jede Haltung erfordert Distanz, ein Wegtreten von sich selbst. Eine
       Erlaubnis der Vielstimmigkeit. Bei einem Sieg kuckt jeder auf Kroos. Da hat
       jeder verstanden, was der Moment ist. Aber nach einer Niederlage wird
       gesucht. Wer muss den Kopf hinhalten, ob er will oder nicht? Khedira,
       Müller, Özil? Das ist Schuldabwehr. Und ein Missverständnis. Du musst diese
       Mannschaft nicht bejubeln, weil sie so und so ist. Aber wenn Du sie
       bejubelst, wirst Du fair zu ihr sein müssen, auch wenn sie verliert.
       
       In seiner Fußballgeschichte hat Deutschland nie Gelassenheit entwickeln
       müssen. Häufig haben sie gewonnen, häufig auf unschöne Art. Im
       Vorrundenspiel 1954 gen Ungarn verletzte Werner Liebrich Ferenc Puskas,
       trotzdem verloren die Deutschen 3:8, nur um später, im Finale, eine der
       besten Mannschaften aller Zeiten aus dem Vordergrund zu schießen. In
       Deutschland wird dieser Sieg als Auferstehung gefeiert, überall anders löst
       er sanftes Kopfschütteln aus.
       
       Aber dieser Sieg des Willens über die Schönheit war stilbildend; 1982 brach
       Harald Schumacher dem französischen Verteidiger Patrick Battiston, als er
       ihm die Hüfte gegen den Kopf rammte, zwei Zähne heraus. Das war nicht das
       Schlimmste: das Schlimmste war, dass Schumacher, auf das Foul angesprochen,
       mit nonchalanter Selbstgefälligkeit sagte, er würde selbstverständlich für
       die Kosten von Battisons Jacketkronen aufkommen. Kurz zuvor hatte die
       deutsche Mannschaft die Schmach von Gijon mitzuverantworten, als man sich
       gegen Österreich den Ball hin und her spielte, um Algerien aus dem Turnier
       herauszueumeln.
       
       Große Mannschaften brauchen keinen Titel, um groß zu sein. Socrates hat nie
       die WM gewonnen, trotzdem ist er (neben Garrincha) die größte Figur des
       brasilianischen Fußballs. Er spielte bei den Corinthians, oder nein: er
       spielte dort nicht nur. Es herrschte die Militärjunta in Brasilien, und
       statt nur zu spielen, hat er mit seinen Kameraden in seinem Verein eine
       Demokratie entworfen. Sie haben eine Selbstverwaltung etabliert, sie haben
       die Trikotwerbung auf der Brust abgeschafft und haben sich stattdessen
       prodemokratische Slogans flocken lassen. Socrates wechselte später zu
       Florenz, nach Italien, und seine Begründung war, er wolle Gramsci im
       Original lesen können und die Geschichte der italienischen Arbeiterklasse
       studieren.
       
       Auf einem der Trikots von Corinthians stand: „Siegen oder verlieren, aber
       stets mit Demokratie.“ Das ist eine Mannschaft, der zu huldigen ist. Dieser
       Mannschaft musste nicht aufgedrückt werden, dass sie Repräsentant einer
       größeren Idee ist, gegnerische Stürmer und obendrein den Multikulutralismus
       zu verteidigen hat; sie hat das aus sich selbst heraus gewählt. Das ist die
       Botschaft, die diese Mannschaft sendet: für ein solidarisches Zusammensein
       muss man sich entscheiden. Das ist Arbeit. Das kann einem nicht
       zugeschrieben werden, das muss man selber tun.
       
       Ein Spiel in seiner WM-Historie hat Deutschland unverdient verloren, 1958,
       gegen Schweden. Es stand 1:1, als Erich Juskowiak von Knut Hamrin getreten
       wurde und dann zurücktrat. Er sah dafür Rot. Später blieb Fritz Walter bei
       einem Zweikampf im Rasen hängen, und schlich nur mehr über den Göteborger
       Platz. Zu neunt kassierte die Mannschaft zwei späte Tore, Deutschland
       verlor das Spiel am Ende 3:1. Juskowiak wurde vom damaligen Trainer
       Herberger aussortiert. „Man fliegt nicht vom Platz“, soll er gesagt haben.
       Und: „Vier Jahre Arbeit für die Katz.“ Sieht so Größe aus, Verständnis?
       
       [1][Du brauchst keine Siege, um zu sein, was Du bist]. Du bist nicht
       angewiesen auf das Bild, das sich der Andere macht. Du kannst Dich auf
       etwas verlassen, was jenseits von Sieg oder Niederlage liegt. Es geht nicht
       um Sieg oder Niederlage. So wird der Pluralismus nicht verteidigt. Sondern
       es geht darum, für welche Werte Du einstehst. Und die werden sich erst dann
       zu beweisen haben, wenn Du gegen Südkorea verlierst und Du Deine Affekte
       auf die Reihen kriegen musst. Dann wird es heißen: Du, deutscher Fan, zeig
       Dich. Und sei kein Arsch.
       
       26 Jun 2018
       
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