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       # taz.de -- nordđŸŸthema: Gesundheit aus dem Kiosk
       
       > Im Hamburger Osten sind die Menschen Àrmer und krÀnker als im
       > Durchschnitt – und ihre Versorgung umso teurer. Abhelfen will die Stadt
       > der Schieflage mit dem Projekt „Gesundheitskiosk“: mehrsprachig und
       > kostenlos fĂŒr die NutzerInnen
       
   IMG Bild: Acht Sprachen, kurzfristige Termine: Im Gesundheitskiosk in Hamburg- Billstedt
       
       Von Daniel Trommer
       
       Ibrahim bleibt stehen und mustert die AushÀnge, die werbenden Fahnen links
       und rechts des Eingangs. Er wirft einen Blick in den sauberen Raum: Keine
       KĂŒhlschrĂ€nke voller Bio-Bier, keine HĂ€ngeregale voller Apfel-Chips und
       E-Zigaretten sind zu sehen. Nein, mit den kahlen WÀnden und dem glÀnzenden
       Empfangstresen wirkt er steril – fast wie eine Arztpraxis: Deutschlands
       erster Gesundheitskiosk.
       
       „Gesundheitskiosk!“, ruft eine Passantin und lacht. „Kann man hier seine
       Gesundheit kaufen, oder was?“ Ihr Begleiter brummt: „Na, das wĂ€re schön“,
       und die beiden gehen weiter. Ibrahim weiß es besser. „Nein, nein“, sagt er.
       „Hier kann man keine Gesundheit kaufen. Ich hab das im Fernsehen gesehen.“
       In der Tat: Als die Einrichtung in Hamburg-Billstedt eröffnet wurde, im
       September 2017, war das Interesse der Medien groß. Gesundheitssenatorin
       Cornelia PrĂŒfer-Storcks (SPD) war anwesend, sagte, das Projekt stĂ€rke die
       „Gesundheitskompetenz“ in einem Staddteil, den viele als „sozial schwĂ€cher“
       bezeichnen.
       
       „Das ist super“, erzĂ€hlt Ibrahim weiter. „Die haben viele Sprachen und das
       kostet nichts. Da kannst du einfach reingehen und die helfen dir.“ Er
       erzĂ€hlt, dass er 16-mal beim Zahnarzt gewesen sei. Er habe viel gewartet –
       und so schlimme Schmerzen. „Ich weiß ĂŒberhaupt nicht, was ich noch machen
       soll. Ich hab auch schon ĂŒberlegt, ob ich da mal reingehen soll“, sagt er
       und wirft erneut einen Blick durch die GlastĂŒr.
       
       Der Gesundheitskiosk liegt direkt neben einem Einkaufszentrum, dem riesigen
       Billstedt-Center, mit Ortsamtsaußenstelle und Busbahnhof. In den
       Stadtteilen Horn und Billstedt, mit der Großsiedlung MĂŒmmelmannsberg im
       Hamburger Osten gelegen, haben 53 Prozent der Einwohner
       Migrationshintergrund. Das durchschnittliche Sterbealter ist geringer, die
       Arbeitslosenquote höher und 30 Prozent der 65- bis 79-JÀhrigen hier sind in
       Behandlung wegen Diabetes. In Hamburg-Blankenese, zum Beispiel, sind es nur
       14 Prozent. Auf 100.000 Einwohner kommen in Billstedt und angrenzende
       Stadtteile 125 ÄrztInnen, 259 sind es im Hamburger Durchschnitt – mehr als
       das Doppelte.
       
       Mehr Krankheiten, weniger Sport, ungesĂŒndere ErnĂ€hrung, weniger Durchblick
       im Gesundheitssystem: Daran habe man etwas Àndern wollen, erzÀhlt Jens
       StadtmĂŒller, selbst Arzt sowie einer der Ideengeber und UnterstĂŒtzer des
       Projekts. Die MedizinerInnen vor Ort hÀtten sich zu einem Netzwerk
       zusammengeschlossen und auf Fördergelder beworben. Der Gesundheitskiosk –
       am Schnittpunkt zwischen Ärzten, Krankenkassen, Sozialeinrichtungen und
       Patienten – sei ein wesentlicher Baustein, um in den Stadtteilen etwas zu
       verbessern, „endlich“, so StadtmĂŒller.
       
       Ganz nebenbei soll auch Geld gespart werden: Bislang sind die
       AOK-Versicherten in Billstedt im Schnitt 71 Euro teurer als der
       Durchschnittsversicherte dieser Krankenkasse: Die AOK Rheinland/Hamburg ist
       Hauptfinancier des Kiosks.
       
       Nicht Konkurrenz, sondern Vertiefung
       
       Doch wie realistisch ist dieses Vorhaben? Schauen wir uns an, wie es in
       Ibrahims Fall bestmöglich laufen könnte: Der Zahnarzt, der wie 44 weitere
       ÄrztInnen in Billstedt/Horn mit dem Kiosk kooperiert, könnte Ibrahim direkt
       dorthin ĂŒberweisen. Dort erhielte er von einer MitarbeiterIn – selbst keine
       ÄrztIn, aber mit medizinischer Ausbildung – eine ausfĂŒhrliche Beratung. Zum
       Beispiel von Erdal GĂŒnes, dessen Muttersprache TĂŒrkisch ist, so wie die
       Ibrahims; eine von insgesamt acht Sprachen, auf denen der Kiosk sein
       Angebot offeriert. „Eine Patientin hat sich zwei Wochen lang um einen
       Termin bei einem Psychologen bemĂŒht“, erzĂ€hlt GĂŒnes. „Ich hatte die
       richtige Nummer und konnte innerhalb von fĂŒnf Minuten einen Termin machen.
       Die Frau ist strahlend nach Hause gegangen.“
       
       Bei Ibrahim könnte sich ein GesprÀch um die tÀgliche Zahnpflege drehen,
       sagt GĂŒnes, um ErnĂ€hrungsgewohnheiten oder auch die Vor- und Nachteile von
       Dritten ZĂ€hnen. Im Schnitt 45 Minuten dauert bislang eine Erstberatung. Das
       ist lange, vor allem im Vergleich zu HausĂ€rztInnen, die fĂŒr weiterfĂŒhrende
       Beratung zu Alltagsthemen keine Zeit haben. „Wir wollen Behandlung nicht
       abgeben, aber vertiefen“, sagt StadtmĂŒller. „Ein halbes Jahr
       Gewichtsabnahmetraining zu begleiten kann aber eine normale Praxis nicht
       leisten.“ Wenn es gut liefe, mĂŒsste jemand wie Ibrahim dank des Kiosks
       seltener zum Zahnarzt gehen. Das wĂŒrde ihn sicher freuen – und die AOK
       auch.
       
       Nehmen wir aber an, es lĂ€uft nicht so gut – so wie bei der schwer
       depressiven Klientin, von der GĂŒnes erzĂ€hlt, mit ihren Symptomen wie
       Hautproblemen und Haarausfall. Er habe fĂŒr sie eine Haarsprechstunde
       herausgesucht. Doch um dort hingehen zu können, mĂŒsste sie zuerst zu einem
       niedergelassenen Arzt gehen, fĂŒr eine Überweisung. „Sie liegt mir am
       Herzen“, sagt GĂŒnes. „Ich habe ihr schon mehrmals hinterher telefoniert.
       Aber sie schafft das in ihrer Depression zurzeit nicht.“ Er seufzt. „Man
       muss da schon eine gewisse Frustrationstoleranz mitbringen.“
       
       ZurĂŒck zu Ibrahim. Wenn der Kiosk nach einer Anfangsphase etwas bekannter
       geworden ist, könnte es sein, dass er irgendwann auch dort mehrere Wochen
       warten muss bis zu einem Termin. Das wÀre einerseits ein Erfolg, sprÀche
       fĂŒr den Sinn des Projekts. Könnte damit auch Druck auf Politik und
       Versicherer aufgebaut werden, schnell weitere solcher Kioske zu eröffnen?
       Vielleicht. Klar ist: Nur wenn die kurzfristige und ausfĂŒhrliche Beratung
       erhalten werden kann, ist der Kiosk eine Marke fĂŒr sich – sonst wĂ€re er fĂŒr
       die Leute, die er erreichen will, wohl kaum mehr als eine weitere Praxis,
       und das auch noch ohne echte ÄrztInnen.
       
       Zuletzt ist völlig offen, ob sich mit ein paar Beratungen tatsÀchlich die
       Gesundheit von Ibrahim verbessern lÀsst. Kann er sein Verhalten anpassen?
       Will er das? Spart er wirklich Zahnarztbesuche? Wenn nicht, dann wĂŒrde
       Ibrahim fĂŒr die AOK sogar teurer werden. WĂŒrde die AOK den Kiosk in so
       einem Fall ĂŒber die dreijĂ€hrige Pilotphase hinaus finanzieren? Das bejahten
       Kassenvertreter bei der Eröffnung. Aber zahlt so ein Versicherer dauerhaft
       drauf?
       
       Ob der Gesundheitskiosk ein Vorbild-Projekt ist oder nur ein gut gemeinter,
       aber mit Erwartungen ĂŒberfrachteter Versuch: Das werden die nĂ€chsten Monate
       zeigen. Im Herbst will das Center for Health Economics der Uni Hamburg, das
       den Kiosk wissenschaftlich begleitet, seine Ergebnisse prÀsentieren. So
       lange ist er ein Baustein in der Förderung des Hamburger Ostens – nicht
       mehr, aber auch nicht weniger. „Schon allein, dass wir uns so vernetzt
       haben, ist ein Gewinn“, sagt der Arzt Jens StadtmĂŒller. „ Wenn es die
       Einsparungen nach drei Jahren nicht gibt, mĂŒssen wir weitergucken.“
       
       Gesundheitskiosk Billstedt:
       
       Möllner Landstraße 18, ☎040 / 41 49 31 10, 0176 / 45 72 85
       09Gesundheitskiosk MĂŒmmelmannsberg: Oskar-Schlemmer-Straße 9–15,☎040 / 71
       59 12 05,0176 / 45 72 85 09
       
       info@gesundheitskiosk.de,
       
       https://gesundheit-bh.de/
       
       30 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Trommer
       
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