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       # taz.de -- WM in Russlands Westen: Glitzerfassaden und Verfall
       
       > Kaliningrad ist in diesen Tagen eine Stadt der Gegensätze. In die Freude
       > über die vielen WM-Besucher mischt sich Angst vor der Zukunft.
       
   IMG Bild: Blick auf eine Parkanlage in Kaliningrad
       
       Kaliningrad taz | Über Kaliningrad hat die Sonne freie Bahn. Nicht eine
       Wolke stellt sich ihr an diesem letzten WM-Tag in der Stadt in den Weg.
       Englische Fans haben es sich mit ein paar Bierdosen in der Nähe von
       Immanuel Kant im Schatten einiger Bäume bequem gemacht. Genauer gesagt in
       der Nähe seiner Grabstätte am Dom, wo seine Gebeine liegen sollen.
       
       Hier in der westlichsten Stadt Russlands, im damaligen Königsberg, ist der
       ideelle Wegbereiter von Völkerbündnissen wie der Europäischen Union geboren
       und gestorben. Auf der nach dem deutschen Philosophen benannten Insel
       herrscht erholsame Ruhe. Nur vom Fanfest auf dem Festland schallt noch die
       Stimme des Entertainers herüber: „Are you ready?“
       
       Kaliningrad, diese russische Exklave, die seit der Unabhängigkeitserklärung
       der baltischen Staaten von Polen und Litauen umgeben ist, ist eine Stadt
       mit sehr verschiedenen Temperamenten. Beschaulichkeit findet man –
       normalerweise zumindest – eher auf der Kantinsel.
       
       Dort, wo die Stadt ihren ursprünglichen Kern und ihr Herz hatte, ist nach
       der Bombardierung der Engländer im Zweiten Weltkrieg nur der Dom übrig
       geblieben. Davor erstreckt sich eine riesige Rasenfläche. Auf das Leben
       trifft man rings um den Leninski-Prospekt, die Hauptschlagader dieser
       Stadt.
       
       Dort liegt auch das Restaurant Zötler, das den Namen einer deutschen
       Biermarke trägt und von Russen betrieben wird. Maultaschen und Weißwürste
       stehen auf der Speisekarte. Auf den Bierdeckeln, die verteilt werden, kann
       man eine Landkarte vom Allgäu studieren.
       
       ## „Stammtisch Deutschsprachiger“
       
       An einem großen Tisch ist ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift
       „Stammtisch Deutschsprachiger“. Jeden Mittwoch kommt hier aufs Neue stets
       ein sehr diverses Grüppchen zusammen, auch in dieser Woche, als just das
       Team von Joachim Löw gegen Südkorea sein historisches Vorrunden-Aus
       besiegelte.
       
       Unter anderem am Tisch: eine russische Tänzerin aus der Stadt, die ihr
       Deutsch aufbessern möchte, drei Schweizer WM-Touristen, ein junger
       deutscher Landwirt mit seiner russischen Frau, ein Kaliningradliebhaber aus
       Niedersachsen, der an der Sprachschule Russisch lernt.
       
       Und natürlich auch Wolfgang Sauer mit seiner Frau Jelena Leontjeva, die er
       in Sibirien kennengelernt hat. Der 76-jährige ehemalige Gartenbauingenieur,
       der seit 2006 in der Stadt lebt, ist Urheber dieses wöchentlichen Treffs.
       
       Die deutsche Community in der Stadt, schätzt Sauer, sei sehr klein,
       zweihundert Menschen vielleicht. Und mit dem alten Königsberg hätten sie im
       Unterschied zu den Sehnsuchtstouristen aus Deutschland, die auf ihrer
       Spurensuche nach der Vergangenheit zuweilen auch auf das Lokal Zötler
       stoßen, nichts am Hut.
       
       Außerdem gäbe es noch ein paar Tausend Russlanddeutsche, die auf ihrem Weg
       von Kasachstan nach Deutschland hier hängen geblieben seien. Von denen
       würde aber kaum einer Deutsch sprechen. Das deutsche Kulturgut würden sie
       trotzdem pflegen. Eine Holzschuhtanzgruppe namens „Bernsteinblume“ tourt
       auch durch Deutschland.
       
       ## Nähe zu Europa
       
       Für viele mag die WM ein Grund sein, Russland zu besuchen. In Kaliningrad,
       hat man den Eindruck, ist die WM eher ein Vorwand, um Kaliningrad zu
       besuchen. Die Nähe zu Europa ist fraglos ein Standortvorteil. Für das große
       Turnier sei „sehr, sehr viel Geld in die Hand genommen worden“, sagt Sauer.
       Ansonsten interessiere man sich in Moskau für die Stadt vornehmlich als
       Militärstandort.
       
       Kaliningrad gilt als hochgerüstetste Gegend Europas. Seit Anfang dieses
       Jahres sind hier auch die atomar bestückbaren Iskander-Raketen stationiert.
       Als Grund wurden Truppenverschiebungen der Nato angeführt. Das Prinzip
       Abschreckung erlebt eine Renaissance.
       
       Zugleich hat die russische Regierung einiges getan, um der Stadt für die WM
       ein hübsches, einladendes Antlitz zu verleihen. Die Fassaden am ewig langen
       Leninski-Prospekt habe man alle in den letzten ein, zwei Jahren renoviert,
       erzählt Wolfgang Sauer. „Wenn der Russe etwas will, dann zieht er das
       durch“, sagt er. „Oft sieht es dann allerdings nach zwei Jahren so aus wie
       dreißig Jahre vorher.“
       
       Sauer spricht von Potemkin’schen Dörfern. Doch anders als die russische
       Zarin Katharina II., die der Legende nach durch bemalte Dorfkulissen
       geleitet werden konnte, können die Touristen hier ihren eigenen Kurs wählen
       und hinter die ersten Häuserreihen schauen. Dort reihen sich graue,
       verfallene Plattenbauten aneinander, die selbst zu ihren guten Zeiten trist
       ausgesehen haben müssen.
       
       ## Angst vor geschlossenen Grenzen
       
       Viele Gegensätze liegen in der Stadt in diesen Tagen ganz nah beieinander.
       Die Freude über die gegenwärtig so vielen Besucher aus dem Ausland mischt
       sich angesichts der zunehmenden Spannung zwischen dem Westen und Russland
       mit den Sorgen vor der nahen Zukunft.
       
       „Ich habe Angst davor, dass die Grenzen dicht gemacht werden“, sagt Sauers
       Frau Jelena Leontjeva. Jenseits von Kaliningrad würden sich die Menschen in
       Russland darüber wahrscheinlich nicht so viel Gedanken machen, aber hier
       sei man es jahrelang gewöhnt gewesen, regelmäßig in die Nachbarländer Polen
       und Litauen zu reisen. Seltener und fremder seien für viele dagegen
       Ausflüge nach Moskau oder St. Petersburg. Leontjeva erzählt: „Die
       Kaliningrader sagen dann oft, ich fahre nach Russland oder Großrussland.“
       
       Der einst blühende Handel rund um Kaliningrad ist etwas ausgetrocknet
       worden. Vor zwei Jahren haben die Polen den Grenzverkehr eingeschränkt. Es
       besteht nun Visapflicht – für beide Seiten. Der Weg zueinander wurde mit
       Hürden der Bürokratie versehen. Für die Zeit der Weltmeisterschaft,
       berichten Grenzgänger in Kaliningrad, habe man die Hindernisse ein wenig
       abgebaut.
       
       An die westlichste Stadt Russlands wurden lediglich Vorrundenspiele
       vergeben. Weil in Kaliningrad ansonsten lediglich russischer
       Zweitligafußball zu sehen ist, haben das die meisten dennoch als großes
       Glück erlebt.
       
       Am Donnerstag bestritten England und Belgien die letzte WM-Partie in der
       Stadt. Der Ausgang hatte eine symbolträchtige Note. Obwohl Belgien 1:0
       gewann, fühlten sich alle als Gewinner. Die Engländer, die trotzdem im
       Achtelfinale stehen, die stolzen Kaliningrader Gastgeber und die Belgier
       sowieso. Und jeder weiß, dass der Gewinn von zeitlich begrenzter Bedeutung
       ist. Rückschläge muss auch das so weit geöffnete Kaliningrad fürchten.
       
       30 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Kopp
       
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   DIR Witali Mutko
       
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