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       # taz.de -- Debatte Care-Arbeit: Um das Kümmern kümmern
       
       > Fixiert auf Erwerbsarbeit vergessen wir, dass die Hinwendung zu anderen
       > ebenso zum Menschsein gehört wie der Job.
       
   IMG Bild: Care meint die Ansprechbarkeit für und Hinwendung zu den Bedürfnissen lebendiger Wesen
       
       Notstand allerorten: Ein eklatanter Mangel an Personal in Kitas,
       Pflegeheimen, Krankenhäusern. Notstand alltäglich auch im Privaten: In
       Großstädten kämpfen werdende Eltern Jahre vor der Zeit um einen
       Kindergartenplatz. Wenn sie einen ergattert haben, übersteigen Krankheiten
       des Kindes schnell die gesetzlich ermöglichten Krankheitstage. Und wenn die
       Mutter, sehr selten der Vater, nach Jahren Teilzeit im Job auf ihren
       Rentenbescheid schaut, sieht sie der Armut ins Auge.
       
       Das sind Symptome [1][einer veritablen Care-Krise, einer Krise des
       Sichkümmerns]. Dabei hängt das Kleine der Alltagserfahrungen mit dem Großen
       der historisch gewachsenen sozialen Struktur zusammen. Überforderung bei
       der sogenannten Vereinbarkeit und der schick klingenden, in Wahrheit aber
       erschöpfenden Work-Life-Balance ist Ausdruck eines strukturellen Problems:
       Die kapitalistische Wirtschaftsweise lebt von Grundlagen, die sie selbst
       nicht erzeugen kann und bislang nicht mal angemessen wertschätzt,
       geschweige denn bezahlt.
       
       Wer von Arbeit als Produktion, Beruf und Geldverdienen sprechen will,
       [2][kann von Care als Kümmern und Reproduktion also nicht schweigen.]
       
       Der Erwerbsarbeit nachzugehen ist nur möglich, weil etwas anderes
       fortlaufend geschieht: Arbeitskraft, die auf dem Arbeitsmarkt verkauft
       wird, muss täglich reproduziert werden. Es sind so banale wie wirkungsvolle
       Dinge, die dazu nötig sind: einkaufen, putzen, schlafen, gesund bleiben,
       emotional stabil sein, Müll runterbringen, Windeln wechseln, kochen,
       Händchen halten, Elternabend, Brote schmieren, Katzenfutter kaufen… Eine
       schier unendliche Fülle alltäglicher Kleinigkeiten, die nie wirklich
       abgearbeitet sind.
       
       ## Ökonomisierung aller Lebensbereiche
       
       Ohne Care geht nichts. Nicht mal leben. Care umfasst alle Tätigkeiten der
       Betreuung und Pflege des Lebendigen, egal ob bezahlt oder nicht. Care meint
       die Ansprechbarkeit für und Hinwendung zu den Bedürfnissen lebendiger
       Wesen, ob Pflanze, Kind, kranker Nachbar, man selbst, die alternden Eltern
       oder Hund, Katze, Maus. Care ist Quelle von Lebenssinn, von Anerkennung und
       Glück.
       
       Da wir jedoch Erwerbsarbeit für die einzige Form der gesellschaftlichen
       Inklusion und individuellen Selbstständigkeit halten, gerät dies unter die
       Räder der Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
       
       Und doch: Care ist auch Arbeit. Hausarbeit, Körperpflege, die Pflege des
       alten Vaters, des kranken Kindes, der Wohnung: Das alles benötigt planbare
       und effizient verrichtete Arbeit. Und so ist Care durchaus
       professionalisier- und bezahlbar. In Teilen jedenfalls. Erzieher,
       Putzfrauen und Essenszustellerinnen sind dafür Beispiele. Nicht zufällig
       sprechen wir hierbei von „haushaltsnahen Dienstleistungen“. Denn historisch
       sind die einschlägigen Berufe als Verlängerung der Hausfrau entstanden.
       
       ## Gender Care Gap
       
       Als solche sind sie in derselben Paradoxie wie alles Weibliche:
       gesellschaftlich in höchsten Sonntagsredentönen romantisiert und zugleich
       alltäglich ausgebeutet. In Care-Berufen herrschen skandalös schlechte
       Arbeitsbedingungen, sie sind weit unterbezahlt.
       
       Seriösen Berechnungen zufolge, etwa vom DIW, gibt es auch in Deutschland
       einen strukturellen Gender Care Gap. Das heißt, dass aus Differenzen in
       Minuten pro Tag, die Männer und Frauen für Care aufwenden, Differenzen in
       Einkommen, Sozialversicherung, Renten werden. Das ist das eine Problem. Es
       ist gesellschaftlich zu lösen und nicht den einzelnen Personen, Frauen,
       Familien überlassen, ihre Work-Life-Balance zu managen.
       
       Derzeit, das ist die gute Nachricht, formieren sich zahlreiche Initiativen
       und Netzwerke, die sich der sozialpolitischen, arbeitsrechtlichen und
       qualitätsbezogenen Frage von Care annehmen. Das wird hierzulande höchste
       Zeit, international sind bereits seit Langem Organisationen von Putzfrauen,
       Haushälterinnen, Kindermädchen und weiteren Dienstleisterinnen aktiv.
       
       Das zweite Problem wird derzeit noch wenig beachtet: Care-Tätigkeiten
       lassen sich nur bedingt professionalisieren. Und wir sollten dies auch nur
       bedingt wollen. Denn Bedürfnisse von und Beziehungen zwischen lebendigen
       Wesen haben einen nicht zu beherrschenden Eigensinn. Lebendigkeit fügt sich
       nicht den Formen und Normen der strategischen Verfügbarkeit. Das weinende
       Kind in der Kita-Garderobe, der einsame alte Nachbar, der noch ein bisschen
       reden will, die junge Patientin, die sich sorgt, der Vater mit dem
       Kinderwagen, der die Treppe zur U-Bahn nicht runterkommt. Sich diesen
       Bedürfnissen zuzuwenden wirft keinen Mehrwert ab – und ist doch
       gesellschaftlich so notwendig wie individuell sinnstiftend.
       
       ## Care ist auch Lust
       
       Ansprechbar zu sein für die Bedürfnisse des Lebendigen ist lebensnotwendig,
       lästig, aber auch lustvoll. Care ist nicht nur belastende Arbeit, die es
       lediglich angemessen zu bezahlen gilt – auch wenn dies ein
       Riesenfortschritt und bitter nötig wäre. Care ist nicht nur Privat- und
       Intimsache, um die sich jede und jeder individuell kümmern muss, Care ist
       nicht nur ein Vereinbarkeitsproblem, Care ist auch nicht nur Ausbeutung
       anderer Menschen zur Herstellung der eigenen Autonomie.
       
       Care ist auch – und davon sprechen wir bislang viel zu wenig – Freude,
       Sinn, Lust, es ist Anerkennung und Realisierung der sozialen Natur unserer
       selbst; dass wir nicht sein können und wollen ohne die Zuwendung von
       anderen und an andere. Eine Gesellschaft, die dies nicht ermöglicht, ist
       unmenschlich.
       
       Es ist daher notwendig, dass Menschen beides realisieren können: Streben
       nach Autonomie und angewiesen sein auf andere, die sich kümmern und um die
       wir uns kümmern. Jenseits von Burn-out und individueller Überforderung
       bildet sich derzeit auch Solidarität: von den organisierten Kämpfen der
       National Domestic Workers Alliance in den USA über Forderungen für eine
       menschlichere Sozialpolitik, vom [3][Care Revolution Network in
       Deutschland] bis zu den kommunalen Mehr-Generationen-Wohnprojekten überall
       auf der Welt. Wir können uns um das Kümmern kümmern!
       
       4 Jul 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-care-krise-kuemmert-euch.1005.de.html?dram%3Aarticle_id=420699
   DIR [2] /Care-Arbeit-und-Familie/!5508715
   DIR [3] /Politologin-ueber-Care-Revolution/!5389217
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paula-Irene Villa
       
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