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       # taz.de -- Harte Arbeit, bella figura
       
       > Ein Fußballbuch als große Erzählung über die italienische
       > Klassengesellschaft:Birgit Schönau beschreibt in „La Fidanzata“ die
       > Geschichte von Juventus Turin
       
   IMG Bild: Der Juve-Stil ist ein soziologisches Wunder. Das Großbürgertum kann sich in ihm ebenso wiedererkennen wie die selbstbewusste Industriearbeiterschaft. Juventus spielt, hier 1957, in den hellen Hosen
       
       Von Detlev Claussen
       
       Wer Italien liebt und keine Ahnung von Fußball hat, kann das ultramontane
       Land nicht verstehen. Fußball gehört zu den Leidenschaften, die Italien
       vereinen und spalten. Ein Exponent dieser Passionen ist Juve, weit über
       die Grenzen Italiens hinaus als la vecchia signora bekannt, vertraulicher
       auch als Madama tituliert.
       
       Birgit Schönau, die aus Zeit und SZ bekannte Italienkorrespondentin und
       Fußballreporterin, stellt in einem konzentrierten Buch über „Juventus,
       Turin und Italien“ den Verein intim als „La Fidanzata“ vor, wie die
       Juventini ihre Juve nennen. Eine Verlobte Italiens, das klingt altmodisch –
       aber bewahrt auch das Versprechen auf, das jedes Spiel vermittelt: Ein
       Traum kann in Erfüllung gehen. Doch Schönau verschweigt auch nicht, dass
       neben dem Viertel aller Italiener, die Juve verehren, es auch mindestens
       ebenso viele Anti-Juventini gibt. Einer ihrer Heroen ist noch immer ein
       HSV-Spieler namens Felix Magath, der 1983 mit einem Sonntagsschuss das
       Europacupfinale gegen die Weltstars aus Turin entschied.
       
       Wer auf fußballerische Anekdoten gespannt ist, wird in diesem Buch viele
       finden. Aber sie sind eingebettet in eine große Erzählung über die
       Geschichte der italienischen Klassengesellschaft der letzten 120 Jahre. Die
       Urgeschichte des modernen Fußballs beginnt auch in Italien als eine feine
       Sache, als Passion einer anglophilen Oberschicht. Sportenthusiastische
       Gymnasiasten gründeten den Verein mit dem Namen Juventus, die Jugend, der
       sich schon in der Zielsetzung von dem aristokratischen Gentlemanfußball der
       vorigen Generation unterschied. Als Maxime wählten die Gründer das
       altrömische Prinzip „Durch Anstrengung zum Genuss“. 
       
       An diesem ehernen Gesetz, der Verbindung von harter Arbeit und bella
       figura, mussten sich bis heute die Stars, die zu Juve kamen, abarbeiten.
       Genies wie Roberto Baggio und Zinedine Zidane haben unter ihm gelitten.
       Andere wie Platini, Pirlo und del Piero konnten sich in funktionierenden
       Teams erst richtig entfalten.
       
       Gegründet in der Zeit des Königreichs Italien, erlebte Juventus den
       Aufstieg des Fußballs zum Massensport nach dem Ersten Weltkrieg. Aus den
       heftigen Klassenkämpfen ging der italienische Faschismus als Sieger hervor,
       der den Fußball als Instrument zur Modernisierung Italiens nutzte. Der
       Stadionausbau wurde im ganzen Land gefördert, der Professionalismus
       unterstützt. Juve wurde wie eine Fabrik geführt. Das industrielle Vorbild
       stand in Turin, die Mirafioriwerke von Fiat. Die Mäzene von Juve waren die
       Bosse von Fiat. Der Clan der Agnelli beherrschte Fabrik und Verein,
       zeitweilig die Automobilindustrie Italiens und anscheinend das ganze Land.
       
       Juve steht für den Triumph des italienischen Familienkapitalismus, der sich
       durch alle Fährnisse des 20. Jahrhunderts hindurchschlängelte. Fiat
       profitierte vom Faschismus, der italienische Fußball wurde mit Mussolinis
       Hilfe und dem systematischen Juve-Know-how in den dreißiger Jahren zur
       Weltmacht. Die wendigen Agnelli überlebten den Zusammenbruch. Vor allem die
       Brüder Gianni und Umberto erkannten die Zeichen der neuen demokratischen
       Zeit mit aufkommendem Massenkonsum. Das italienische Wirtschaftswunder
       vereinte Auto und Fußball, Arbeit und Freizeit. Der Juve-Stil war
       geschaffen, ein soziologisches Wunder, in dem sich das vornehme
       Großbürgertum wiedererkennen konnte ebenso wie die selbstbewusste
       Industriearbeiterschaft.
       
       Doch die vornehme Dame hat auch viel Schmutz an ihren Kleidern. In der
       Krise der Automobilindustrie scheuten die Agnelli weder das Geld Ghaddafis
       noch die Dienste des Managers Moggi, der vor nichts zurückschreckte:
       Doping, Schiedsrichterabsprachen, die im Weltmeisterjahr 2006 zum
       Zwangsabstieg führten. Der angriffslustige Fußballpopulist Berlusconi
       drohte mit Milan den Turinern den Rang abzulaufen. Inzwischen sind die
       Mailänder Konkurrenten an undurchsichtige Chinesen verhökert, während Juve
       unabhängig vom Schicksal der Autoindustrie zu einem modern geführten
       Unterhaltungskonzern geworden ist. Aus einer ökonomisch gesicherten
       Defensive versucht man weiter mit Eleganz und Zielstrebigkeit nach der
       Krone der Champions League zu greifen.
       
       30 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlev Claussen
       
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