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       # taz.de -- Stinkt, aber sexy: Mythos Berliner Luft: … ffft, ffft, ffft!
       
       > Paul Lincke besang sie vor 100 Jahren, seitdem ist Berlins Luft legendär.
       > Eigentlich gibt es dafür in der seit jeher stinkenden Stadt keinen Grund.
       > Oder doch?
       
   IMG Bild: Früher war es die Industrie, heute sind es die Autos: Berlins Luft ist seit eh und je schlecht
       
       Berlin um 1900: Die Stadt hat sich seit 1871 mehr als verdoppelt, mehr als
       zwei Millionen Menschen leben hier. Dank Borsig, Agfa, Siemens und AEG
       mausert sie sich zum Industriezentrum Deutschlands. „Das ist die Berliner
       Luft, Luft, Luft.“
       
       In den Arbeiterbezirken der Stadt drängen sich ganze Familien in ein
       beheizbares Zimmer, das gleichzeitig Küche, Wohn- und Schlafstube ist. Die
       Gemeinschaftstoilette auf halber Treppe oder im Hof teilen sich bis zu 40
       Menschen. „So mit ihrem holden Duft, Duft, Duft.“
       
       Paul Linckes Gassenhauer [1][„Berliner Luft“] aus dem Jahr 1904 gilt bis
       heute als inoffizielle Hymne der Stadt. Nicht nur von Militärkapellen wird
       sie noch immer oft gespielt, seit Jahren beenden die Berliner
       Philharmoniker ihr Waldbühnen-Konzert damit, und auch auf dem
       [2][Sechstagerennen] hört man es von früh bis spät. Es gibt
       Pfefferminzschnaps, der sich [3][„Berliner Luft“] nennt. Gleich zwei
       findige Unternehmen verkaufen „Original Berliner Luft“ in Dosen für stolze
       3,50 Euro pro Stück und in Tüten für 8 Euro.
       
       Aber warum ist das so? Nach wie vor stinkt die Stadt aus vielen Löchern –
       auch wenn sie schon lange keine Industriestadt mehr ist, auch wenn in den
       einstigen Arbeiterbezirken jetzt so manches kinderlose Ehepaar auf 140
       Quadratmetern residiert. Regelmäßig werden an Hauptverkehrsstraßen die
       Luftqualitätsgrenzwerte für Stickoxid (NOx) überschritten, vor allem wegen
       der vielen Dieselfahrzeuge.
       
       ## Olfaktorische Reizüberflutung
       
       Feinstaub und Dönergewürz, Kanal und Straßendreck: Berlin wird wieder
       voller und dichter; mancher Hundekenner warnt davor, die Vierbeiner mit der
       Metropole zu konfrontieren, weil sie olfaktorisch überreizt reagieren
       könnten. Und trotzdem singt alle Welt nach wie vor: „Wo nur selten was
       verpufft, pufft, pufft.“
       
       Vielleicht muss man sich zum Paul-Lincke-Lied einen 104 Jahre jüngeren Song
       anhören, um zu verstehen, was eigentlich gemeint ist: den Song „Schwarz zu
       blau“ von [4][Peter Fox] aus dem Jahr 2008. Ein Mann stolpert morgens aus
       dem Club, fällt über Schnapsleichen, sieht eine Prügelei und macht sich die
       Jacke zu. Berlin ist hässlich und riecht grauenhaft, aber am Ende singt der
       Mann: „Und ich weiß, ob ich will oder nicht, dass ich dich zum Atmen
       brauch’.“
       
       Wie Paul Lincke hat auch Peter Fox eher eine Art Paradoxon geschrieben als
       einen Song. Berlins Luft war schon immer kaum ihren Namen wert, und das
       wird auf absehbare Zeit auch so bleiben. Und was machen wir? Wir lieben
       sogar noch den ekligsten Mief, der uns hier täglich um die Nase weht. Denn
       er ist aufgeladen mit einer völlig anderen Bedeutung. Wenn wir ihn riechen,
       dann spüren wir den frischen Wind. Wir atmen die große Freiheit.
       
       Paul Lincke geht es weniger um den Gestank als um das preisgünstige
       Unterhaltungsangebot der Stadt, das diesen Gestank verursacht. Unter
       anderem spielt er auf den als sexuell ausschweifend und verfressen
       geltenden König Friedrich Wilhelm II. an – aber auch auf die Zähigkeit, die
       Widerspenstigkeit der Berliner, die schon als Kinder den Busfahrer
       bescheißen und sich jünger machen, als sie sind, um kein Ticket kaufen zu
       müssen: „Mir kann keener!“
       
       So gesehen ist Peter Fox’ „Schwarz zu Blau“ wirklich eine geniale
       Fortschreibung des alten Schlagers. Sein Clubgänger muss über sieben
       Brücken: über Kotze steigen und Rotze, über Ratten und tote Tauben. Er muss
       durch den Mund atmen und sich den Staub aus den Augen reiben. Erst dann
       kann er erkennen: Dies mag nicht die schönste und nicht die aufgeräumteste
       Stadt der Welt sein. Gerade deshalb kann man hier mehr hartes und weiches,
       mehr skurriles und menschliches Nebeneinander erleben als an den meisten
       Orten sonst. Es ist einfach wunderschön, wenn Fox von „Bagdads Backwaren“
       singt. Denn da liegt „ein Hooligan ’ner Frau in den Armen und flennt“.
       
       Soll es doch weiterstinken, dieses Berlin. Pffft, pffft, pffft!
       
       10 Jul 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Archiv-Suche/!476557&s=Paul+Lincke+Paul+Lincke&SuchRahmen=Print/
   DIR [2] https://sixday.com/de/home-2/
   DIR [3] http://www.berliner-luft.berlin/
   DIR [4] /Archiv-Suche/!5174795&s=Peter+Fox/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Messmer
       
       ## TAGS
       
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