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       # taz.de -- Debatte Deutsche Migrationspolitik: Der Egoismus der Reichen
       
       > Zuwanderung ist nur dann gerecht, wenn wir nicht nur Fachkräfte aus armen
       > Ländern abziehen. Auch gering qualifizierte Menschen brauchen Chancen.
       
   IMG Bild: Wenn nur Hochqualizierte einwandern dürfen, wird das Sterben im Mittelmeer nie aufhören
       
       Wie könnte eine angemessene und gerechte Zuwanderungspolitik aussehen? Das
       ist die Frage, die vom Asylstreit überschattet wird, obwohl die
       Zukunftsfähigkeit unseres Gesellschaftsmodells von ihr abhängt. Zunächst
       einmal: Was berechtigt Regierungen des globalen Nordens zur politischen
       Steuerung der Zuwanderung, während sie gleichzeitig eine liberale
       Weltwirtschaftsordnung vertreten, in der Güter und Kapital sich weitgehend
       frei bewegen? Wäre ein Recht auf Niederlassung nicht eine konsequente Folge
       des Rechts auf Freizügigkeit? Befürworter einer solchen „Politik der
       offenen Tür“ und des „Rechts auf Zuwanderung“ stützen sich auf umstrittene
       Annahmen.
       
       Eine auf klassische Migrationstheorien zurückgehende Erklärung lautet, dass
       wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Regionen und Staaten die Hauptursache
       der freiwilligen Migration ist. Dass Menschen aus Regionen mit niedrigen
       Löhnen in solche mit höheren Löhnen wandern, ist richtig. Die Annahme
       jedoch, mit Angleichung des Entwicklungsniveaus verlangsame sich die
       Abwanderung, hat sich als Mythos erwiesen. Das Gegenteil ist der Fall:
       Wohlstandseffekte für die Ausgangsregion bleiben im besten Fall bescheiden
       oder die Wirtschaftsentwicklung – wenn übermäßig viele Fachkräfte abwandern
       – wird sogar beeinträchtigt. So schafft man neue Anreize zur Abwanderung.
       
       Auf eine Migrationspolitik und Kontrolle der Zuwanderung lässt sich auch
       deswegen nicht verzichten, weil Migrationsbewegungen sich beschleunigen,
       wenn man nichts tut. Die historische Migrationsforschung lehrt uns, dass
       neben dem Wohlstandsgefälle und der Lohndisparität auch andere
       Wanderungsdynamiken existieren. Nicht zu unterschätzen ist dabei der
       Diaspora-Effekt, auf die der britische Migrationsforscher Paul Collier
       hinweist: Durch die Zuwanderung in eine demokratisch verfasste Gesellschaft
       entsteht eine Diaspora mit Migrantenorganisationen, die weitere Zuwanderung
       beschleunigt. Wodurch sich die Diaspora wiederum stabilisiert und
       vergrößert.
       
       ## Migration muss allen nützen
       
       Es braucht ein Einwanderungsgesetz, das sich an einem pragmatischen
       Humanismus orientiert, der die Interessen aller Beteiligten gleichermaßen
       berücksichtigt. Ein Zuwanderungsgesetz, das allein auf die Rekrutierung von
       Fachpersonal bedacht ist, würde in den Ländern mit einer starken Diaspora
       in Deutschland einen Exodus auslösen. Die Folge wäre, dass die Wirtschaft
       in den betroffenen Ländern stagnieren könnte – zum Nachteil der Menschen
       dort.
       
       Auch gilt es zu vermeiden, dass die Diasporagemeinschaft exzessiv wächst:
       Dies würde die Eingliederung ihrer Mitglieder in die Mehrheitsgesellschaft,
       den Arbeitsmarkt und in das Bildungssystem verlangsamen. Zu berücksichtigen
       sind auch die Interessen der Einheimischen im Aufnahmeland. Unternehmen
       wünschen sich meist eine möglichst große Anzahl von Arbeitskräften, die
       nicht durch staatliche Grenzen oder Regulierungen eingeschränkt sind. Denn
       so haben sie nicht nur eine breite Auswahl bei der Besetzung der offenen
       Stellen, sondern sichern sich eine stärkere Verhandlungsmacht gegenüber den
       Angestellten und Arbeitnehmern.
       
       Mit unkontrollierter Zuwanderung ist Vollbeschäftigung unmöglich, sie birgt
       zudem die Gefahr des Lohn- und Sozialdumpings, die Machtposition von
       Gewerkschaften und Arbeitnehmern würde geschwächt. Eine Migrationspolitik,
       die dies und die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit nicht
       berücksichtigt, stärkt die Gegner der Einwanderung. Gleichwohl darf
       Migration auch nicht zum Instrument eines sozialromantischen Klassenkampfes
       von unten missbraucht werden. Dies wäre Anreiz für Arbeitgeber, ihren
       Machtverlust und den Rückgang von Gewinnmargen durch eine Auslagerung ins
       Ausland zu kompensieren.
       
       Die Einwanderungsgesellschaft Deutschland braucht eine Migrationspolitik,
       die der einheimischen Gesellschaft nutzt und gleichzeitig den Zuwanderern
       und dem Herkunftsland Vorteile bringt. Wichtig ist zuallererst eine
       Entflechtung des Zuwanderungsgesetzes vom Asylrecht. Weil in der
       Vergangenheit eine Zuwanderung über das Asylverfahren zulässig war und für
       wirtschaftlich motivierte Migration kein ausreichender legaler Kanal
       bereitstand, wurde in der Praxis das Grundrecht auf Asyl ausgehöhlt; es
       wurde immer mehr eingeschränkt und ausgelagert. Wir brauchen eine
       Zuwanderungsperspektive auch für Geringqualifizierte, damit sie die enormen
       Risiken einer irregulären Migration nicht länger auf sich nehmen.
       
       ## Für Geflüchtete müssen andere Kriterien gelten
       
       Deutschland braucht ein Zuwanderungsgesetz, aber es sollte auf einem
       Verfahren basieren, das klar festlegt, wie viele Fachkräfte und
       Hochqualifizierte genau die Wirtschaft braucht und wie viele
       Geringqualifizierte das Land darüber hinaus aufnehmen kann. Denn auch
       Geringqualifizierten muss dringend eine legale Zuwanderungsperspektive
       geboten werden, sonst hält das Sterben im Mittelmeer an.
       
       Für Geflüchtete müssen dagegen andere Kriterien gelten. Humanitäre
       Verpflichtung bedeutet: Menschen in Not muss geholfen werden. Der Umgang
       mit ihnen ist würdevoll zu gestalten und darf nicht bei politischen
       Auseinandersetzungen instrumentalisiert werden. Fatal wäre jedoch auch der
       Eindruck, dass aus der Ankunft der Geflüchteten ein Bleiberecht erwächst.
       
       Ein angemessenes Zuwanderungsgesetz erfordert auch ein entsprechendes
       Staatsbürgerschaftsrecht, das die Zugewanderten als potenzielle
       Staatsbürger betrachtet und Einbürgerung nicht als Belohnung für gelungene
       Integration, sondern als Mittel der Partizipation begreift. Vonnöten ist
       zudem eine inklusive nationale Identität, die Identifikation nicht als
       Unterordnung in eine Schicksalsgemeinschaft, sondern als Identifikation mit
       einer Zukunftsgemeinschaft begreift.
       
       Nur ein Verfassungspatriotismus, der sich auf Recht und Freiheit gründet,
       kann den Zusammenhalt in Deutschland stärken. Und: den Rechtspopulisten den
       Wind aus den Segeln nehmen.
       
       12 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yasar Aydin
   DIR Yaşar Aydin
       
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