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       # taz.de -- Praxis ohne Theorie beim G20-Protest: Willkommen in der Hölle
       
       > Ein Jahr nach dem Hamburger G20-Gipfel wird klar, dass linke Kritik an
       > den kapitalistischen Verhältnissen desavouiert ist. Die affirmativen
       > Kräfte haben Oberwasser.
       
   IMG Bild: Wenig Lust und Liebe zum eigenen Leben: Demonstranten am Pferdemarkt
       
       Hamburg in Schutt und Asche, eine Verwüstung sondergleichen, Chaos,
       verheerende Gewalt (der Polizei, der Demonstranten) – das ist ein Jahr nach
       dem Gipfeltreffen der G20 und den Protesten dagegen noch immer das medial
       hängengebliebene Bild: Hamburg – das soll in diesen Julitagen 2017 eine
       „Geisterstadt“ gewesen sein, wie eine druckfrische Publikation in der
       Flugschriften-Reihe des Nautilus-Verlags reißerisch titelt.
       
       Es ist ein trügerisches Bild, das aus zu Historiengemälden vergrößerten
       Momentaufnahmen besteht: Hier der Pferdemarkt, hier ein paar zehn Meter
       Schulterblatt, dort die Elbchaussee oder die Große Bergstraße.
       
       Und freilich die Aufnahmen von der Polizeischlacht gegen eingekesselte
       Demonstranten bei der „Welcome to Hell“-Demo, die allerdings weniger eine
       politische Auseinandersetzung dokumentieren als eine Beinahe-Tragödie, die
       schon Sanitäter vor Ort gegenüber der Polizei mit der
       Love-Parade-Katastrophe in Duisburg 2010 verglichen (die Einsatzleitung
       soll übrigens abgewunken haben: in Hamburg seien immerhin ausnahmslos
       Straftäter am Werk, was die Inkaufnahme eines möglichen Unglücks
       rechtfertige).
       
       Es ist darüber hinaus ein Bild, das erstaunlich schnell archiviert wurde,
       zunächst ersetzt durch die fröhlich-braven Putzkolonnen, die die
       „Geisterstadt“ vom Dreck der Krawalle befreiten, um dann schnell ganz aus
       dem medialen Spektakel-Kaleidoskop zu verschwinden.
       
       Wenn dieses Bild nun wieder auftaucht, mit all seinen Facetten, ein Jahr
       nach dem Gipfel, dann kaum als Nachbild einer Konstellation, die man sich
       als revolutionäre Situation erhoffte und die dann doch nicht mehr war als
       ein brutales und überdies ziemlich fantasieloses, unüberlegtes Scharmützel.
       
       ## Straßenschlacht wird zu bizarrem Vexierbild
       
       Jedenfalls: Das, was in der G20-Woche vor einem Jahr passierte, als „Riot“
       zu etikettieren – so Titel, Thema und These eines G20-Bandes aus Karl-Heinz
       Dellwos Laika-Verlag -, ist nichts weiter als idealistische Einrede, nach
       der vor allem die paar Stunden Straßenschlacht im Schulterblatt zu einem
       bizarren Vexierbild gerinnen, das die Geschehnisse absurd zwischen dem
       Imaginären und Realen changieren lässt.
       
       Kein Bild kursiert jedoch, das es ermöglichen könnte, aus dem Protest eine
       Wirklichkeit zu konstruieren, im Sinne einer wirklichen Bewegung, als die
       Marx und Engels den Kommunismus bestimmen; eine Wirklichkeit mithin, die
       selbstgemachte und selbstbestimmte Geschichte wäre, was das Scheitern, das
       Versagen, den politisch desolaten, aber lebendigen Widerspruch mit
       einschließt. Diese Geschichte wäre eine der emanzipatorischen Praxis, eine
       der Selbstbefreiung des Menschen – und sie überhaupt erst zu konstruieren,
       wäre die Aufgabe.
       
       Zugegeben: das ist erst einmal kaum eine handgreiflichere Parole als die,
       die schwärmerisch den „Riot“ postuliert. Gleichwohl: Es gibt einen
       Unterschied ums Ganze, und der ist das Ganze selbst, das Anlass für die
       Proteste war, was völlig aus dem Blick gerät, wenn eben die Proteste,
       einschließlich dann auch der Großdemonstrationen, auf eine Revolte
       runtergebrochen, also auf das aktionistische Ereignis verkürzt werden –
       wobei sich ein „Riot“ darauf nicht reduziert, was sich luzide in der –
       eigentlich rechtzeitig im letzten Jahr bei Bahoe Books wieder aufgelegten –
       „Theorie des Aufstands“ von Emilio Lussu aus dem Jahr 1937 nachlesen lässt.
       
       Die Beschränkung ist eine symbolische Beschränkung, die zur faktischen
       Selbstbeschränkung wird; sie resultiert aus Ohnmacht, sofern sie der
       fatalen Logik des Sachzwangs oblag: Der Widerstand gegen den G20-Gipfel,
       den man als symbolischen Ausdruck des globalkapitalistischen Terrors
       symbolisch verhindern wollte (und den man, wenn überhaupt, das war
       taktisch-strategisch klar, auch nur symbolisch verhindern konnte), wurde
       allein durch die massive Präsenz der Polizei zu einem Widerstand
       herabgezwungen, der sich nunmehr allein mit dieser Präsenz der
       Staatsgewalt, ihrer Brutalität und Unverhältnismäßigkeit auseinandersetzen
       musste.
       
       Anders gesagt: Die Kritik der globalen Gewaltverhältnisse wurde durch die
       Kritik der lokalen Gewaltverhältnisse verdeckt. Die politische Aktion wurde
       zur Verzweiflungstat; es gab einige Schwerverletzte, Anwohnerinnen und
       Anwohner in der Gefahrenzone waren über Tage wie paralysiert, hatten
       Angstzustände, Leute wurden in den Protestcamps drangsaliert – die
       permanente Aggression, die ja unüberhörbar mit dröhnend kreisenden
       Aufklärungshubschraubern in der Luft lag, verbreitete schnell Frustration
       als Grundstimmung; dass Frustration mit Wut kompensiert wird, ist eine
       psychologische Binsenweisheit, die kaum für politische Strategieerwägungen
       taugt.
       
       ## Der Ausnahmezustand blieb partiell
       
       Auch wenn mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizeitrupps selbst noch an den
       U- und S-Bahnhöfen der Hamburger Randbezirke patrouillierten, blieb der
       Ausnahmezustand partiell, selbst innerhalb des Gefahrengebietes. Die
       Störungen im Betriebsablauf des durchschnittlichen Alltagstrotts waren kaum
       größer als zum Beispiel beim Hanse-Marathon oder den Harley Days.
       
       Das heißt: Für die meisten Menschen in Hamburg war die Gipfelwoche wie jede
       andere, nur, dass das Angebot, sich aufzuregen, größer war – Trump, Merkel,
       Verkehrsstau, Verspätungen, zerdepperte Autos, brennende Autos, zu viel
       Polizei, zu wenig Polizei, Demonstranten, Leute, die nur Krawall machen
       wollen, Leute, die nicht von hier sind, die da oben, die anderen etc..
       
       Geplant waren die Aktionen gegen den G20 als Aktionen gegen die
       fortschreitende Entmenschlichung der Erde in der Regie des Kapitals;
       geblieben ist bestenfalls eine Erinnerung daran, dass die Aktionen ja auch
       Aktionen gegen den G20 waren. Der Protest wurde zum Selbstzweck. Gekappt
       wurde damit jedwede emanzipatorische Perspektive, sei’s die der
       Weltveränderung, sei’s die der Selbstveränderung.
       
       Das ernste Anliegen, dass mindestens der Kapitalismus abgeschafft werden
       muss, damit die Menschheit auf diesem Planeten wenigstens weiterleben und
       damit überhaupt dieser Planet weiter existieren kann, wurde als abseitige
       Ansicht von realitätsfremden Spinnern abgekanzelt und verhöhnt.
       
       Seit den G20-Protesten, wenn auch vielleicht mit denen nur mittelbar im
       Zusammenhang stehend, und sicherlich im Sog des ohnehin attraktiver
       werdenden Rechtskonservatismus und patriarchalen Autoritarismus, mit dem
       längst jeder Sozialdemokrat gepflegt irgendwie kokettiert, häufen sich
       lobhudelnde Glaubensbekenntnisse an den Status quo, die davon handeln, wie
       schön die Welt ist, wie toll der Kapitalismus, wie prima es ist, dass heute
       nur noch alle zehn (statt zwei) Sekunden ein Kind an Unterernährung stirbt,
       und wie schlimm die Utopie ist, vor allem die einer freien Gesellschaft.
       Dieselben Medien, mitunter auch dieselben Autorinnen und Autoren feiern
       aber auch den 200. Geburtstag von Marx, loben jedes Buch von Hardt und
       Negri, sind über Kritik am Kapital bestens informiert.
       
       ## Der Protest wurde zum Selbstzweck
       
       Indes kann man rückblickend auf die G20-Woche sagen: Der Protest wurde
       letztlich auch dadurch zum Selbstzweck, dass die Medien, das Feuilleton und
       der Kulturbetrieb, die im Vorfeld des G20 – wie danach auch wieder – noch
       großkotzig mit radikalen Theorien hantierten, plötzlich jeden praktischen
       Umsetzungsversuch solcher radikalen Theorien bloß distanziert als Event
       darstellten, erst mit Sympathien („Welcome to Hell“-Demo), dann ohne (der
       Freitag der Schanzen-Krawalle).
       
       Das zeigt allerdings, wie sehr heute „linke“ Positionen, die angesichts der
       desolaten Weltlage allein aus Gründen des Überlebenswillens
       selbstverständlich sein sollten, schlechterdings ignoriert werden. Als
       Theorien sind sie nur Spielmarken, und als Praxis werden sie zum bloßen
       Spektakel.
       
       Mithin ist – zumal im Rückblick auf die G20-Woche – fraglich, ob die Linke
       selbst noch durch „linke“ Positionen bestimmt ist, ob sie ihrem –
       sicherlich und hoffentlich vielfältigen – Selbstverständnis nach, deshalb
       „links“ ist, weil sie einvernehmlich und reflektiert am Projekt der
       Emanzipation theoretisch und praktisch festhält, oder ob die Linke links
       ist, weil sie’s halt ist.
       
       Auffällig in der G20-Protestwoche war jedenfalls, wie wenig die
       Interventionistische Linke intervenierte, wie wenig das Ums-Ganze-Bündnis
       es vermochte, den Protest als Protest „ums Ganze“ zu organisieren, auch wie
       wenig konkrete Utopie gegen die herrschende Weltordnung verteidigt wurde,
       und wie wenig schließlich Lust und Liebe zum eigenen Leben in den Protest
       eingebracht wurden – dabei wäre genau das die Praxis, die sich in einer
       emanzipatorischen, wirklichen Bewegung kollektiv verfestigen müsste.
       
       Ein Jahr nach dem Gipfel der G20 sieht die Welt kaum anders aus, wenn sich
       auch in Nuancen die Machtlager zu verschieben scheinen: Die USA verhandeln
       mit Nordkorea über etwas, was nur zynisch Frieden genannt werden kann,
       während die Nachrichten titeln, dass die USA und China auf einen
       Handelskrieg zusteuern, mit der EU zwischen den Fronten. Im Mittelmeer
       ertrinken weiterhin Menschen. Olaf Scholz, der als Bürgermeister ein
       G20-Spektakel zu verantworten hatte, das letztendlich auch finanziell ein
       Desaster war, ist mittlerweile Finanzminister und Vizekanzler im Kabinett
       der Merkel-Regierung.
       
       Und die hat gerade beschlossen, in Deutschland wieder Internierungslager
       einzurichten. Willkommen in der Hölle.
       
       10 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Roger Behrens
       
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