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       # taz.de -- EU-Gipfel zum Umgang mit Flüchtlingen: Fragwürdig und kaum umsetzbar
       
       > Es bleibt bei Euphemismen, statt der Solidarität in Europa wird Frontex
       > gestärkt. Grund zur Freude gibt es nach dem EU-Gipfel nicht.
       
   IMG Bild: Die wichtigen Fragen sind weiter offen
       
       Brüssel taz | Einigung – welche Einigung? Nach einer dramatischen
       Gipfel-Nacht, in der Italien alle Beschlüsse mit einem Veto blockiert
       hatte, rauften sich die 28 Staats- und Regierungschefs der EU schließlich
       doch noch zusammen. Doch die „Schlussfolgerungen“, die sie am Freitag
       Morgen gegen 4.30 Uhr bekannt gaben, lassen viele Fragen offen. Eine echte
       Einigung stellen sie nicht dar, die zentralen Probleme bleiben ungelöst.
       
       Das gilt vor allem für die beiden Kernfragen, die diesen Gipfel
       beherrschten: Wird es Kanzlerin Angela Merkel gelingen, eine „europäische
       Lösung“ für ein deutsches Problem zu finden – die so genannte
       Sekundärmigration, also die Weiterwanderung bereits erfasster Aslybewerber
       aus einem anderen EU-Land nach Deutschland?
       
       Dazu gibt der Beschluss nicht viel her. „Die Mitgliedstaaten sollten alle
       nötigen internen gesetzgeberischen und administrativen Maßnahmen ergreifen,
       um solchen Bewegungen entgegenzuwirken, und dabei eng zusammenarbeiten.“
       Mehr steht nicht drin im Gipfelpapier. Es lässt sich zwar als Ermächtigung
       lesen, „interne Maßnahmen“ zu ergreifen – sofern sie mit anderen EU-Staaten
       abgestimmt sind.
       
       So gesehen hätte sich Merkel durchgesetzt – und sogar noch eine Art
       EU-Genehmigung für ihren Innenminister Horst Seehofer eingeholt, seinen
       [1][umstrittenen „Masterplan“] für Migration umzusetzen. Man kann es aber
       auch anders interpretieren – als Gummiparagraphen, der alles und nichts
       bedeutet. Vor allem fehlt Merkel das, was sie am dringendsten suchte: Ein
       bilaterale Absprache mit Italien zur Rücknahme von Aslybewerbern. Im
       Gipfelbeschluss steht davon nichts.
       
       ## Italien zickt rum – und erreicht doch nicht alles
       
       Aber auch Italien hat nach dem Gipfeldrama längst nicht alles erreicht, was
       es wollte. Mit seiner Vetodrohung, die das Treffen stundenlang in die Krise
       stürzte, zielte Ministerpräsident Giuseppe Conte darauf ab, das
       Dublin-System zu Fall zu bringen, das Italien zur Aufnahme und
       Registrierung von Bootsflüchtlingen verpflichtet. Künftig sollten die
       Migranten nicht mehr auf italienischem Hoheitsgebiet, sondern in „Europa“
       ankommen – und solidarisch auf die EU-Länder verteilt werden.
       
       Doch die Reform des Dublin-Systems wurde vertagt, und eine neue
       Umverteilung gibt es auch nicht. Dass auf diesem Gipfel „ein
       verantwortungsvolleres und solidarischeres Europa geboren“ wurde, wie Conte
       jubelt, ist kaum nachzuvollziehen. Weil die Solidarität nicht vorankommt –
       vor allem Osteuropa ist ein Totalausfall –, haben sich die Staatenlenker
       auf Repression und Abschottung verlegt.
       
       Neben der schon mehrfach angekündigten Stärkung der EU-Grenzschutzagentur
       Frontex werden nun neue Auffanglager für Bootsflüchtlinge und Asylbewerber
       angekündigt. Sie könnten entweder außerhalb Europas – also [2][in Afrika] –
       als auch innerhalb der EU entstehen. Erstere werden „regionale
       Ausschiffungsplattformen“ genannt, die EU-Lager sollen „kontrollierte
       Zentren“ heißen. Beides ist ein Euphemismus.
       
       Denn hinter den bürokratischen Wortschöpfungen verbirgt sich der Versuch,
       die unkontrollierte Einreise in die EU zu stoppen und die Migranten zu
       selektieren. Nur, wer erkennbar Anspruch auf Asyl hat, kann noch auf eine
       Weiterreise hoffen, alle anderen sollen abgeschoben oder „zurückgeführt“
       werden. Dass die Lager zusammen mit der Uno errichtet werden sollen, ist
       nur ein schwacher Trost. Denn mit EU-Recht ist das Ganze schwerlich
       vereinbar.
       
       ## Die eigentlichen Probleme werden kaum verhandelt
       
       Zudem stellt sich die Frage, ob die Lager-Phantasien überhaupt umsetzbar
       sind. Die „kontrollierten Zentren“ innerhalb der EU, die Frankreich und
       Italien vorgeschlagen haben, sollen „auf rein freiwilliger Basis“ errichtet
       werden – doch bisher fand sich noch kein Freiwilliger. Und die
       „Ausschiffungsplattformen“ in Afrika möchte auch kein Land haben, die
       letzte Absage kam am Donnerstag von Marokko.
       
       Die EU bietet Lösungen an, die nicht nicht nur rechtlich fragwürdig sind,
       sondern auch kaum machbar. Und mit den eigentlichen Problemen haben die
       Beschlüsse auch kaum etwas zu tun. Schließlich kommen immer weniger
       Flüchtlinge über die Außengrenzen nach Europa. Die Zahl der „festgestellten
       illegalen Grenzübertritte“ sei im Vergleich zu 2015 um 95 Prozent
       zurückgegangen, stellen die EU-Chefs in ihren „Schlussfolgerungen“ fest.
       Doch sie ziehen daraus den Schluß, die Abschottung weiter zu verschärfen.
       
       29 Jun 2018
       
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