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       # taz.de -- Die Wahrheit: „Cariiiine, qu’est-ce que tu fabriques?“
       
       > Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (3): Gemaßregelt werden nach Maß
       > – und dann auch noch tief in den französischen Pyrenäen.
       
   IMG Bild: Fußnägel wieder flott: Die Autorin nach gelungener Schafspediküre à la française
       
       Das Völkchen der Journalisten und Schriftsteller gilt als Weltmeister im
       Reisen. Dauernd sind Autoren zu Lesungen und Buchmessen unterwegs oder
       müssen sich auf ihren Expeditionen durch aller Damen und Herren Länder eine
       Unterkunft suchen. Dabei haben sie einige der abseitigsten Absteigen der
       Welt gesehen und sind dort untergekommen, wo andere so gar keinen Fuß
       hineinsetzen würden. In unserer neuen Wahrheit-Sommerserie dokumentieren
       wir das ganze Ausmaß des unbehausten Schreckens. 
       
       Wenn Sie vorhaben, in die französischen Pyrenäen zu fahren, fahren Sie
       nicht ins Département Ariège. Fahren Sie nicht über die Hauptstraße D 177,
       vorbei an La Ribarole und Perri, wo die südfranzösischen Kiefern so
       prächtig ihre hölzernen Arme nach Reisenden aus Nordeuropa ausstrecken, und
       nicht in die beschauliche Kleinststadt Saint-Girons, 950 Meter über dem
       Meeresspiegel gelegen. Und wenn doch, bewegen Sie sich um Himmels Willen
       nicht weiter über die einsame Landstraße Richtung Magarat zu einem –
       zugegeben – sehr pittoresk gelegenen Bauernhof, dessen Namen ich aus guten
       Gründen verdrängt habe, oder Sie verfallen dem Wahnsinn.
       
       Vor Jahren war ich auf diesem Hof ein paar Wochen und half mit. Das Konzept
       nennt sich kurz „Woofen“ oder lang „Worldwide Opportunities on Organic
       Farms“. Die Idee: auf Biobauernhöfen anpacken, gegen freie Kost und Logis.
       Ja, das hatte ich mir doch recht schön ausgemalt – bisschen körperliche
       Arbeit, bisschen Entspannen in der Natur, Abendspaziergänge, lesen,
       schlafen, Freiheit! So der Plan.
       
       „Cariiiine! Mon dieu! Qu’est-ce que tu fabriques ?!“ oder „Cariiiine, was
       machst du da bloß?“: Die Realität war dann ein wenig anders. Zu den
       Hofbesitzern soll idealerweise ein lockeres, ein freundliches Verhältnis
       bestehen – doch nicht hier. Auf diesem Hof bei Saint-Girons gab es nicht
       nur Kost und Logis gratis, sondern auch Erziehungshilfe. Von morgens bis
       nachts.
       
       Es ist das Jahr 2008. Ich bin die einzige Helferin auf dem kleinen Hof mit
       den uralten grauen Backsteingebäuden, weitere Mitarbeiter gibt es nicht.
       Noch ehe ich die diversen Ställe besichtigt habe, werde ich in die
       bäuerliche Familie – Eltern plus drei voll pubertierende Kinder –
       eingesogen, mit Haut und Haar. Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen,
       vier Mal am Tag, je für mindestens eine Stunde. Das Essen ist gut, die
       Tischregeln sind drakonisch.
       
       Eine verwirrende Vielzahl von Messern, Gabeln und Löffeln gruppiert sich um
       meinen Teller, pro Fehlgriff gibt es eine wortreiche Standpauke von
       Sandrine, Hofbesitzerin und Alleinherrscherin des Hauses. Die Todsünde:
       erzeugt man mit einem der Besteckteile ein Geräusch auf dem Teller. In den
       Tonschüsseln erschallt jeder Löffelratscher. Sandrine hält sich schreiend
       die Ohren zu. Aber wie soll ich die Bouillabaisse denn sonst leer löffeln?
       Erste Selbstzweifel: Spachtle ich wirklich wie ein Schwein, habe ich keine
       Manieren? Liefen die ersten 29 Jahre meines Lebens komplett falsch, und
       welchen Anteil haben daran meine Eltern?
       
       Hart ist es nachts. Die Schlafkammer für Handlanger wie mich ist unter dem
       Dach. Muss ich nachts pullern, bleibt mir nur, die knarzende Holztreppe
       hinunter zu steigen, Millimeter für Millimeter den knarzenden Flur entlang
       zu schleichen, vorbei am Elternschlafzimmer. Ob ich mich vergangene Nacht
       wieder nicht beherrschen konnte, sie wäre von dem Poltern wieder wach
       geworden, stöhnt Sandrine jeden Morgen.
       
       Ihr mahnender Zeigefinger tanzt vor meinen Augen. „Je suis désolée“, murmle
       ich am Frühstückstisch, ehe ich noch die Schelte über mein ungekämmtes
       Haar über mich ergehen lasse. Nach zwei Tagen fühle ich mich nicht mehr wie
       fast dreißig, sondern wie drei. Meine eigenen Eltern haben mich eher so
       laissez faire aufgezogen – hier wird meine lückenhafte Erziehung im
       Schnelldurchlauf nachgeholt.
       
       Besondere Baustelle: Mein Französisch. Minderwertig, barbarisch, ja
       beinahe nordfranzösisch, wie bei diesen irren „Sch’tis“, die damals im Kino
       laufen. Nach dem Abendessen heißt es deshalb mit der Dame des Hauses das
       „Dictionnaire“ durchpauken. Normalerweise würde ich mir all das nicht
       bieten lassen. Aber diese abgelegene Pyrenäenwelt sowie der hypnotische
       Blick von Sandrine bewirken, dass ich alles abnicke: „Oui, oui!“ Nach zehn
       Tagen bekomme ich einen Nachttopf ins Zimmer gestellt. Der Tiefpunkt.
       
       Geklopft wird an meine Zimmertür nie, sie wird einfach aufgerissen:
       „Cariiiine! Grand-mère Danielle!“ Mit Spaziergängen und Bücherlesen wird es
       nichts. Stattdessen stehen am Wochenende Familienausflüge und
       Verwandtenbesuche auf dem Plan, und damit immer neue Verhaltensregeln.
       Welche Tante begrüße ich zuerst, und wie halte ich die Hand beim
       Rotweintrinken? Einmal bin ich mutig, erkläre, ich könne nicht mit, hätte
       Bauchweh. Meine selbsterklärte „Gastmutter“ schüttelt energisch den früh
       ergrauten Lockenkopf, klimpert mit dem Autoschlüssel, bis ich mich meinem
       Schicksal füge.
       
       Wie gern würde ich einen einzigen Abend auf meiner Stube bleiben und mir
       nachher selbst eine Stulle schmieren oder Schafsmilch frisch aus dem Euter
       zapfen, aber ich traue mich nicht zu fragen – und ist Schafsmilch pur
       überhaupt lecker?
       
       Nur in den Ställen ist es schön: 100 Schafe, ein Dutzend Schweine, nettes
       Kleinvieh. Man kann recht viel lernen, zum Beispiel, Schafen die Fußnägel
       zu schneiden, mit einer Art Kneifzange. Der Besitzer des Hofes und Herr
       über die Ställe, Yves, ist durch morgendlichen ausgiebigen Rotweinkonsum
       gegen neun Uhr schon recht knülle, in seiner wortkargen Art aber nett.
       
       Bleibt nur: die Flucht. Gar nicht leicht ohne Auto oder regelmäßige Busse,
       am Ende der Welt. Eines Morgens, nach drei Wochen, fünf Wochen vor meiner
       offiziellen Abreise, steige ich in aller Frühe zum letzten Mal die
       knarzende Holztreppe herab, stiefle mit meinem Reiserucksack acht
       Kilometer bis zu dem verschlafenen Marktplatz von Saint-Girons. Nehme einen
       Bus nach Toulouse und von dort weiter Richtung Deutschland, zurück in die
       Mündigkeit. Erst als ich die Grenze passiere, fühle ich mich wieder
       halbwegs erwachsen.
       
       Ich schaue nicht mit Groll zurück. In diesen drei Horrorwochen habe ich
       auch einiges gelernt. Etwa mit Besteck so sorgsam zu hantieren, dass man
       auf dem Teller null Geräusch hört. Oder lautlos über Flure zu schleichen.
       Und: Schafen die Fußnägel zu schneiden, sogar im Dämmerlicht.
       
       18 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ella Carina Werner
       
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