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       # taz.de -- Die Wahrheit: Wie ein stillgelegter Schlachthof
       
       > Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (4). Heute: Auf den groben Rippen
       > einer Schlafcouch im polnischen Łeba.
       
   IMG Bild: Manchmal findet sich einfach nichts Besseres als eine karge Couch
       
       Das Völkchen der Journalisten und Schriftsteller gilt als Weltmeister im
       Reisen. Dauernd sind Autoren zu Lesungen und Buchmessen unterwegs oder
       müssen sich auf ihren Expeditionen durch aller Damen und Herren Länder eine
       Unterkunft suchen. Dabei haben sie einige der abseitigsten Absteigen der
       Welt gesehen und sind dort untergekommen, wo andere keinen Fuß hineinsetzen
       würden. In unserer neuen Wahrheit-Sommerserie dokumentieren wir das ganze
       Ausmaß des unbehausten Schreckens. 
       
       Wer vor zwanzig Jahren in Polen unterwegs war, bekam am Zielort oft
       Privatquartiere angeboten. Das konnte das ehemalige Kinderzimmer sein oder
       auch die Wohnzimmercouch. So genau konnte man das vorher nie sagen. Es war
       immer ein bisschen Glück dabei, doch billig war es in jedem Fall.
       
       Wir fuhren mit dem Abendzug nach Łeba, berühmt für seine Riesenwanderdünen.
       Bereits am Bahnhof vor der Endstation stiegen die ersten Häscher zu und
       durchkämmten die Wagen nach bettreifen Ausländern. Die Leute waren arm. Der
       Wechsel der Systeme hatte sie erst auf dem falschen Fuß erwischt und dann
       komplett verarscht. Das galt in besonderem Maße für die Landbevölkerung.
       
       Als der Zug in Łeba hielt, verdoppelte sich das Angebot noch um die
       ambulanten Notvermieter auf dem tristen Bahnsteig. Die Nachfrage blieb
       hingegen gleich gering. Meine Freundin und ich waren definitiv die einzigen
       Touristen. Man gab die biblische Beherbergung der fünftausend – bloß in
       umgekehrter Relation.
       
       Wir hingen unentrinnbar am Haken, so viel stand fest, doch von welchem
       Angler? Darum hub nunmehr ein Hauen und ein Stechen an. Alle schrien auf
       uns ein. Hätten wir nicht gewusst, worum es ging, hätten wir uns in den
       Fängen eines Lynchmobs geglaubt. Jeder pries die Weichheit des Bettes und
       die Schönheit der Tapeten in den höchsten Tönen und den grellsten Farben.
       Andere versuchten mit Sonderleistungen zu punkten; so versprach uns eine
       energische Dame zur Übernachtung noch Kanapki, Schnittchen, inklusive.
       
       Man unterbot sich gegenseitig mit den Preisen. Das war
       Raubtierkapitalismus. In diesem tragischen Ringen fehlte nur noch, dass ein
       jedes von zwei Seiten so lange an unseren Ärmchen zerrte, riss und zog, bis
       wir beide mitten entzwei gewesen wären. Dann hätte niemand mehr etwas von
       uns gehabt. Okay, doch, sie hätten natürlich noch unsere Sachen
       untereinander aufteilen und die Leichen verscharren können, aber so waren
       sie nicht drauf.
       
       Wir erwählten uns schließlich ein altes Weiblein, das daraufhin von den
       anderen gedisst wurde. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob Mitleid unsere
       Entscheidung beeinflusste oder ob es, erbärmlich, aber daher vielleicht
       umso wahrer, nicht doch der Dumping-Preis von zwanzig Złote pro Nacht war.
       Uns gefiel wohl auch, dass sie die ganze Zeit über eher zurückhaltend am
       Rande stand. Vermutlich hatte sie sich selbst nur eine Außenseiterchance
       gegeben.
       
       Der Tiefschlag veranlasste die Schnittchenfrau zu einer Tirade, deren
       markanten Refrain die Wörter „Nutte“ und „Mutter“ bildeten. Wir hätten, so
       ließ sie schließlich mit grimmer Miene das Fallbeil sausen, uns hiermit
       gegen Kanapki und für Schmutz und Gestank entschieden. Die Alte ließ sich
       von dem Gezeter null beirren und führte ihre hartumkämpfte Beute im
       Triumphzug ab.
       
       Auf dem kurzen Weg zischelte sie in einem fort weich und beruhigend auf uns
       ein. Keinesfalls wollte sie riskieren, dass ihr der fette Fisch zurück ins
       Wasser sprang. Sie sprach nur Polnisch, sodass ich endlich meine dürren
       Kenntnisse erproben konnte. Denn bei den Jüngeren und speziell in Städten
       konnte ich das vergessen: Versuchte ich Polnisch mit ihnen zu radebrechen,
       starrten sie mich an, als hätte ich eine Kröte ausgespien, und antworteten
       auf Englisch. Andere lachten mich einfach aus und ließen mich stehen. Doch
       die Älteren schienen fast dankbar, wenn Deutsche sich mal etwas
       konstruktiver mit ihrer Kultur befassten, als wie früher nur die Dorfkirche
       anzuzünden.
       
       Die Wohnung lag in einem abgeblätterten Block noch in Sichtweite des
       kleinen Bahnhofs. Man hatte uns das Sofa im Wohnzimmer bezogen, Die
       Mieterin selbst wohnte offenbar so lange in der Küche. Dort hustete auch
       ungesund ein Mann, den wir nie zu Gesicht bekamen: der Ehemann, der Sohn,
       ein Gefangener?
       
       Es war sauber, doch es stank. Und zwar stank es aus der Küche. Dort wurden
       dem kleinen Hund des Hauses über Stunden irgendwelche halb verwesten
       Fleischabfälle abgekocht. Oder bereiteten sie etwa ihre berühmte
       Kuttelsuppe zu? Der Geruch zog in sämtliche Ritzen der Wohnung, der Couch,
       der Bettwäsche. Er zog in die Poren und krallte sich in den Schleimhäuten
       fest.
       
       Ein abendlicher Ausflug an die frische Ostseeluft machte den Makel nach der
       Rückkehr nur umso deutlicher. Nachdem in der Nacht auch noch die sedierende
       Wirkung des schweren Honigwodkas nachgelassen hatte, wälzten wir uns auf
       den groben Rippen der Schlafstatt und versuchten, durch den Mund zu atmen.
       Es gab eine kleine Toilette mit einem Waschbecken darin. Hielt man den Kopf
       in die Kloschüssel, verschaffte das der Nase eine kurze Linderung.
       
       Nach einer schlafarmen Nacht verfluchten wir unseren imperialistischen
       Geiz. Nun empfingen die Ausbeuter ihren gerechten Lohn – die Währung hieß
       Ekel und konvertierte mit dem Złoty im Kurs von eins zu hundert. Am Morgen
       wurde uns je ein Becher Tee gebracht, der ebenfalls das Aroma eines
       überhastet stillgelegten Schlachthofs verströmte. Kanapki gab es nicht,
       aber das konnte man für zweitausend Ekel ja auch nicht erwarten.
       
       20 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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