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       # taz.de -- Asylverschärfung in Deutschland: Brüssels Angst vor der Kettenreaktion
       
       > Nach dem Unions-Schwenk in der Flüchtlingspolitik warnt die EU-Kommission
       > Deutschland vor weiteren Alleingängen – und zeigt doch Verständnis.
       
   IMG Bild: Die Gegend, von der ein Domino-Effekt ausgehen könnte: bayerische Grenze zu Tirol
       
       BRÜSSEL taz | Die EU-Kommission hat die Bundesregierung aufgefordert, einen
       Alleingang an der bayerisch-österreichischen Grenze zu vermeiden. Zwar sei
       es noch zu früh, das von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und
       Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) angekündigte neue „Grenzregime“
       und die geplanten Transitzentren zu bewerten. Man erwarte jedoch, dass
       Berlin keine „unilateralen Schritte“ unternehme, sagte eine Sprecherin der
       Brüsseler Behörde.
       
       Die EU-Kommission reagiert damit auf die Sorge, der deutsche Kurswechsel in
       der Flüchtlingspolitik könne einen negativen Domino-Effekt auslösen.
       Österreich und Italien haben bereits angekündigt, auf verschärfte
       Grenzkontrollen oder Rückführungen von Asylbewerbern mit ähnlichen
       Maßnahmen zu reagieren. Auch Slowenien und Tschechien bereiten sich auf
       mögliche Gegenmaßnahmen vor. Dies könnte das Schengen-System der offenen
       Grenzen gefährden.
       
       „Wir beobachten die Lage sehr genau“, sagte die Sprecherin. Dabei ließ sie
       überraschend großes Verständnis für die neue deutsche Haltung durchblicken.
       Der Kampf gegen die sogenannte Sekundärmigration, also die Weiterreise
       bereits registrierter Asylbewerber in ein anderes EU-Land, sei prinzipiell
       ebenso von EU-Recht gedeckt wie die Schaffung geschlossener Auffanglager.
       Diese könnten nun bald an der bayerisch-österreichischen Grenze entstehen.
       
       „Räumliche Beschränkungen werden von den EU-Regeln erlaubt“, sagte die
       Behördensprecherin. Dies umfasse die Möglichkeit einer Residenzpflicht.
       Auch Haft sei möglich, „wo sie insbesondere in Verbindung mit dem Risiko
       einer Flucht gerechtfertigt ist“. Ähnlich hatte die Kommission bereits mit
       Blick auf Auffanglager für Flüchtlinge in Afrika argumentiert. In einigen
       EU-Ländern wie Griechenland bestehen bereits geschlossene Lager.
       
       ## Seehofer trifft Salvini
       
       Dennoch ist die Lage brisant. Zum einen ist das neue deutsche „Grenzregime“
       mit Transitzentren innenpolitisch umstritten. Zum anderen ist unklar, was
       passiert, wenn Migranten aus den neuen Zentren wie geplant nach Österreich
       zurückgeschoben werden. Dies sei nur mit einer bilateralen Vereinbarung
       möglich, die bei der EU-Kommission geprüft werden müsse, heißt es in
       Brüssel.
       
       Doch bisher gibt es keine solche Vereinbarung. Beim EU-Gipfel Ende
       vergangener Woche war es Merkel nicht gelungen, Österreich oder Italien –
       also das Land, aus dem die meisten Asylbewerber nach Deutschland
       weiterreisen – zu Abkommen zu bewegen. Dies soll nun Innenminister Seehofer
       nachholen, der am Donnerstag in Wien erwartet wird. Der CSU-Politiker will
       sich auch um Absprachen mit Italien bemühen; dazu ist am 11. Juli ein
       Treffen mit seinem Amtskollegen Matteo Salvini geplant.
       
       Doch allein schon die Ankündigung, die Spielregeln umzukehren, hat eine
       Kettenreaktion ausgelöst. Die von der rechtsradikalen FPÖ abhängige
       Regierung in Wien kündigte „Maßnahmen zum Schutz unserer Südgrenze“ an; so
       könnte der Brenner-Pass schärfer kontrolliert oder sogar dichtgemacht
       werden.
       
       ## „Gutes Geschäft“
       
       „Für uns wäre das ein gutes Geschäft“, kommentierte Italiens Innenminister
       Salvini, der auch Chef der fremdenfeindlichen Lega ist. Denn es kämen
       zurzeit mehr Migranten aus Österreich nach Italien als andersherum. „Ich
       bin bereit, ab morgen die Kontrollen am Brenner wiedereinzuführen, weil wir
       dadurch nur gewinnen können“, betonte Salvini.
       
       Aus Brüsseler Sicht ist dies jedoch ein Horrorszenario. Denn damit würde
       das Schengen-System zusammenbrechen – ein Grundpfeiler der Europäischen
       Union. Noch sei der Worst Case nicht eingetreten, beruhigt man sich in
       Brüssel. Außerdem sei nun die „Achse der Willigen“ zusammengebrochen, die
       Österreichs Kanzler Sebastian Kurz mit Rom und Berlin gründen wollte. Statt
       der Hardliner habe nun wieder Kanzlerin Merkel Oberwasser, heißt es in der
       EU-Kommission – und das sei doch auch schon was.
       
       4 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eric Bonse
       
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