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       # taz.de -- Verschollenes John-Coltrane-Album: Komponieren beim Spielen
       
       > Die Sensation der Jazz-Saison: „Both Directions at Once“, eine bisher
       > unbekannte Aufnahme John Coltranes aus dem Jahr 1963, ist nun
       > veröffentlicht.
       
   IMG Bild: Porträt des Meisters als junger Mann
       
       Die Wahrscheinlichkeit, in diesen Breitengraden Menschen zu treffen, die
       John Coltrane noch live erlebt haben, ist inzwischen eher gering. Der
       US-Jazzsaxofonist und Komponist starb 1967 im Alter von nur 40 Jahren. Sein
       Lebenswerk genießt bis heute zu Recht Legendenstatus. Daran anzuknüpfen ist
       noch immer lukrativ für das Majorlabel Universal, dem wiederum die Kataloge
       der bedeutenden Jazzlabels Verve und Impulse! gehören, wo nun ein bisher
       verschollen geglaubtes Album des Meisters veröffentlicht wird. Impulse! ist
       das Label, das Coltrane zu Lebzeiten auch berühmt gemacht hat.
       
       Die Elogen auf die bislang unbekannte Aufnahmesession aus dem Jahr 1963
       könnten glauben machen, Jazzgeschichte würde allein im Studio geschrieben
       und auf Alben für die Nachwelt konserviert. Die eigentliche gute Nachricht
       zur Ausgrabung von „Both Directions At Once. The Lost Album“ ist eine
       andere: Die Aufnahme vermittelt einen exzellenten Eindruck davon, wie John
       Coltranes Quartett im März 1963 live geklungen hat, und sie ist ganz ohne
       vorherige Lebenswerkexegese zu genießen.
       
       Ein paar einordnende Bemerkungen seien hier dennoch gestattet. 1963 ist
       Coltrane bereits seit Längerem clean vom Heroin und hat mit dem Pianisten
       McCoy Tyner, dem Bassisten Jimmy Garrison und dem Schlagzeuger Elvin Jones
       die idealen Quartett-Gefährten gefunden. Die vier Musiker hatten just ein
       zweiwöchiges Engagement im New Yorker Club „Birdland“, als zwei
       Aufnahme-Sessions anstehen: jene mit dem Sänger Johnny Hartman (der mit
       ihnen im „Birdland“ auftritt) am 7. März und eine am 6. März.
       
       ## Auf verschlungenen Wegen
       
       Der Coltrane-Forscher Ashley Kahn berichtete bereits 2006 in seinem Buch
       über das Impulse!-Label von den verschlungenen Wegen der Tonbandkopien
       verschiedener Sessions vom Produzenten Bob Thiele in seinen eigenen Besitz,
       zurück zu Verve, hin zu Coltranes Ehefrau Alice und schließlich zu einem
       New Yorker Auktionshaus und kündigte an, Verve sei dabei, die Bänder
       (dieser einen Session) für eine zukünftige Veröffentlichung „zu sichern“.
       
       Im Stück „Vilja“, einer Interpretation des gleichnamigen Liedes aus Franz
       Lehárs Operette „Die lustige Witwe“, ist Coltrane auf dem Tenorsaxofon zu
       hören, die De-luxe-Edition des „Lost Album“ enthält die Fassung auf dem
       Sopransaxofon, die zuvor schon, bezeichnenderweise, auf einer
       Wiederveröffentlichung des Coltrane-Hartman-Albums erschienen war. Hartman
       nahm den Song „Nature Boy“ 1972 auf, das „Lost Album“ bietet eine Version
       Coltranes – beide Einspielungen haben fast exakt die gleiche Länge – was
       nahelegt, dass der Song-Teil ihres Auftritts im „Birdland“ und somit auch
       für die gemeinsame Aufnahme gedacht war.
       
       Apropos Länge: Zur Emanzipation vom Jazzplaining sind die vier Takes des
       Stücks „Impressions“, alle unter fünf Minuten (auf den zwei CDs der
       De-luxe-Edition), hervorragend geeignet. Hier lässt sich, frei nach
       Heinrich von Kleist, die allmähliche Verfertigung der Komposition beim
       Spielen verfolgen.
       
       ## Improvisatorische Gedanken im Geiste von Kleists
       
       Der Dichter beschrieb in seiner Schrift von 1805 den „Übergang des Geistes
       vom Denken zum Ausdrücken“ im Moment der Rede, und so können wir Coltrane
       dabei zuhören, wie er sein eigenes Stück vorausdenkt, jeden neuen
       improvisatorischen Gedanken mit dem darauf folgenden verknüpft und stets
       die übergeordnete Schlüssigkeit im Sinn hat. Obwohl die Tempi minimal
       variieren, vermittelt sich in jedem Take ein anderer Fokus auf straffe oder
       gelöste Tonfolgen, bevorzugte Tonlagen und Phrasierungen.
       
       Diese atemberaubende Fähigkeit bringt nur zum Strahlen, wer ein echtes
       Anliegen hat und dieses in Konzerten konsequent befragt, reflektiert und
       fortentwickelt. Andersherum ließe sich heraushören, wenn das Quartett, in
       den „Impressions“-Takes ohne Tyner, live kein so perfekt eingespieltes Team
       wäre. Der Albumtitel „Both Directions At Once“ geht zurück auf ein Zitat
       des Saxofonisten Wayne Shorter über die Spielweise Coltranes – er spiele
       in die vertikale und horizontale Ausrichtung eines Stücks.
       
       „Slow Blues“ ist tatsächlich eine seltene Freude aus Coltrane-Kaskaden,
       unbeirrbarem Walking-Bass und reduziertem Schlagzeug von Elvin Jones,
       dessen Polyrhythmen in den anderen Aufnahmen Schnappatmung auslösen. Die
       beiden „Untitled Originals“, zuvor noch nicht veröffentlicht, vermitteln
       Coltranes Erforschungen des Sopransaxofons, den geneigten Zuhörenden
       seinerzeit ein noch ungewohnter Klang im modernen Jazz.
       
       Hoffentlich wird dann auch ein verschollenes Album von Charles Mingus
       ausgegraben und zu dessen 40. Todestag im Januar 2019 veröffentlicht.
       
       9 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Franziska Buhre
       
       ## TAGS
       
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