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       # taz.de -- Katastrophen-Kunst in Hamburg: Bilder wie Marvel-Filme
       
       > Wie sich ein neues Bildthema durchsetzte: die Ausstellung „Entfesselte
       > Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600“ in der Hamburger Kunsthalle.
       
   IMG Bild: Als die marine Malerei einen Höhepunkt erreichte: Eugène Isabeys „Schiffbruch des Dreimasters ‚Emily‘ im Jahre 1823“, entstanden 1865.
       
       Von Dingen handeln viele Ausstellungen. Davon, wie die Menschen diese Dinge
       sehen und gesehen haben, handeln alle – mal mehr, mal weniger ausdrücklich.
       Wenn sich die Hamburger Kunsthalle, als zweiten großen Sommerprogrammpunkt
       in diesem Jahr – neben [1][der Überwachungsfotoschau „[Control] No Control]
       – nun „das Bild der Katastrophe seit 1600“ vorgenommen hat, liegt der
       Gedanke nahe: Klar. Denn was – wenn keine „Bilder von …“ – will man denn
       sonst zeigen?
       
       „Ohne Bilder keine Katastrophen“, sagte Christoph Martin Vogtherr, seit
       Oktober vergangenen Jahres Direktor am Hamburger Glockengießerwall, zur
       Ausstellungseröffnung – zumindest keine Katastrophen in der kollektiven
       Wahrnehmung. „Tatsächlich entstehen Bilder nicht als Folge von
       Katastrophen, sondern sie konstituieren sie“, schreibt er im
       Ausstellungskatalog. „Auch heute beobachten wir, dass manche Ereignisse mit
       verheerenden Auswirkungen nicht als Katastrophen wahrgenommen werden, wenn
       sie nicht zu Bildern gerinnen können.“
       
       ## Ereignis und Vermittlung
       
       Dieses Zusammenspiel von Ereignis und Vermittlung, das Verhältnis von
       Abgebildetem und im Abbild überhaupt erst Hergestelltem interessiert die
       beiden Ausstellungsmacher: Markus Bertsch, in der Hamburger Kunsthalle
       verantwortlich für Malerei, Skulptur des 19. Jahrhunderts, und Jörg
       Trempler, Kunsthistoriker an der Universität Passau – und Autor unter
       anderem des Buches „Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild“ (Wagenbach
       2013).
       
       Am Anfang habe Begeisterung gestanden, schreiben die beiden Kuratoren: für
       Katastrophenbilder. Hamburg eignet sich demnach besonders gut dafür,
       einerseits, weil die Stadt mit dem Brand im Mai 1842 selbst Schauplatz so
       einer „entfesselten Natur“ war, der nun auch ein Raum gewidmet ist. Aber
       mehr noch, weil der dortigen Kunsthalle die Zeit um 1800 immer schon
       wichtig war, und da veränderte sich den Kuratoren nach der künstlerische
       Blick auf die Katastrophe. Zwar habe sich das „neue Bildthema“ schon im 16.
       Jahrhundert formiert, schreibt Trempler, aber: „Erst um 1800 werden Motive
       wie Vulkanausbrüche, Schiffbrüche sowie Feuersbrünste zu einem zentralen
       Thema im Kunstdiskurs und finden Eingang in die großen Salons ihrer Zeit.“
       
       ## Mehr als bloßes Spektakel
       
       Das Spektakel, das die ersten „Entfesselte Natur“-Rezensionen prominent
       oder sogar einzig herausstreichen, ist so nur eine, die oberflächlichste
       Schicht dieser sommerlichen Schau: Ja, es sind ein paar echt spektakuläre
       Exponate zu sehen. Wie etwa John Martin 1822ff. „[2][Die Zerstörung von
       Herculaneum und Pompeji“] in Szene gesetzt hat: Es muss den Zeitgenossen
       gegeben haben, was wir uns heute vom jeweils frischesten
       Marvel-Popcorn-Blockbuster erwarten. Und tatsächlich waren auch Martins auf
       Tournee geschickte Bilder damals beim Publikum um einiges erfolgreicher als
       bei der (Kunst-)Kritik. Das Bild wurde bald, schon 1928, bei einer
       Themseflut beschädigt, galt lange als unrettbar und kann erst seit der
       Restauration im Jahr 2011 wieder gezeigt werden; dass solche Perlen nun in
       der Kunsthalle hängen, ist eine Stärke dieser gelungenen Ausstellung.
       
       Im Fall von Théodore Géricaults [3][„Floß der Medusa“] ist sogar noch aus
       der Abwesenheit des Spektakulären etwas gemacht worden: Das Gemälde aus dem
       Jahr 1819, gern als Schlüsselwerk der Moderne begriffen, passt mit seinen
       knapp fünf mal gut sieben Metern nicht in die Hamburger Räumlichkeiten. Nun
       sehen die Besucher stattdessen Studien Géricaults, gezeichnete Details der
       späteren Komposition. Und daneben mehrere „Bearbeitungen“, die belegen, wie
       sehr das gut 100 Jahre alte Bild immer noch inspirieren kann.
       
       ## Nachgestellt und abgemalt
       
       Für „Neue Malerei – Géricault“ nahm Christian Jankowski ein heutiges
       Tableau vivant zur Grundlage: Das Foto einer französischen Schulklasse, die
       im Klassenzimmer jene von Géricault in Szene gesetzte Havarie nachstellte,
       ließ Jankowski dann von chinesischen Malerei-Dienstleistern nachmalen – im
       Format des Originalgemäldes. Dieses Riesenformat zeigt man nun anstelle des
       weiter im Louvre hängenden Géricault, allerdings gekippt – wegen der
       fehlenden Raumhöhe. Und von Thomas Struht hängt im selben Raum „Louvre 4,
       Paris 1989“: Ein Foto des Géricault an der Museumswand, davor einige
       Betrachter, die uns den Rücken zuwenden – eine Reflexion über die Rezeption
       von Kunst, darüber, wie auch der Betrachter Teil dessen wird.
       
       Ein Schlüsseldatum, an dem sich die These vom Durchbruch des
       Katastrophischen als Motiv gut durchdeklinieren lässt, stiftet der 1.
       November 1755, das [4][Erdbeben von Lissabon]. Zwei Jahre später legte
       Jacques-Philippe Lebas seine sechs nun gezeigten Kupferstiche vor, die
       [5][„Sammlung der schönsten Ruinen von Lissabon, verursacht durch das
       Erdbeben und das Feuer“]. Stilistisch angelehnt waren die an den zeitgleich
       sehr erfolgreichen Piranesi – bloß dass der eben antike Steinhaufen
       festhielt. Erstmals also wurden da, so Trempler, „zeitgenössische
       Zerstörungen elementarer Gewalt – wenn zunächst auch nur bildlich – mit
       über 2.000 Jahre alten Ruinen verglichen“, um nicht zu sagen: „das Erdbeben
       von Lissabon mit dem Untergang von Rom oder der vergangenen Antike“
       gleichgesetzt. In der Tat sorgten Erdbeben und anschließendes Feuer neben
       rund 60.000 Todesopfern auch für eine erhebliche Erschütterung im
       europäischen Geistesleben – ob es aber auch eine Zeitenwende war, wie das
       Ende der Antike und der Beginn des (christlichen) Mittelalters, für das
       Piranesis Ruinen standen?
       
       An Lebas’ Stichen, die damals beträchtliche Popularität erlangten, lässt
       sich aber noch etwas weiteres Wichtiges festmachen: Über den Ruinen zeigt
       er Gebäude, die weder 1755 existiert hatten noch zwei Jahre später, zur
       Entstehung der Serie, da standen: eine Vision der Zukunft. Hier setzt ein
       anderer wichtiger inhaltlicher Punkt der Ausstellung an: Mitnichten
       bezeichnete der immer schon als „Katastrophe“, was wir heute so nennen. Da
       wurde vielmehr ein Begriff aus der antiken Dramentheorie entlehnt: der
       Moment, in dem die Handlung des Stückes umschlägt – selten zum Guten.
       
       ## Inferno mit Logenblick
       
       Was gelesen werden kann als rationalere Lesart dessen, was lange als
       Ausdruck von Gottes Zorn galt. Und in einem anderen nun in Hamburg zu
       sehenden Bild auf eigene Weise seinen Niederschlag findet: Auf [6][Hubert
       Roberts „Brand von Rom“] (um 1770) gibt es eine Reihe Zuschauer auf einem
       Gebäude; das Inferno, von der Loge aus gesehen.
       
       Interessant: Zu erfahren war bei der Pressevorbesichtigung auch, dass die
       Sponsorensuche schwierig gewesen sei. Hängt aber draußen am grauen Würfel,
       den die Galerie der Gegenwart darstellt, dieser jüngste Teil des
       Kunsthallenkomplexes, nicht gern mal ein großer Versicherer seinen
       Schriftzug auf? Tut er – aber mit entfesselter Natur, da versteht diese
       Branche vielleicht keinen Spaß. Oder doch? Ihr Logo untergebracht hat am
       Ende, ausgerechnet, die Hamburger Feuerkasse.
       
       28 Jul 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!5517982/
   DIR [2] https://www.tate.org.uk/art/artworks/martin-the-destruction-of-pompei-and-herculaneum-n00793
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Flo%C3%9F_der_Medusa
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Erdbeben_von_Lissabon_1755
   DIR [5] http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?objectId=3115668&partId=1&people=16148&peoA=16148-2-70&page=1
   DIR [6] http://www.muma-lehavre.fr/en/collections/artworks-in-context/15th-18th-century/robert-fire-rome
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Diehl
       
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