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       # taz.de -- Eine Zeitreise in die 90er Jahre: Mit der Discoqueen in der Lederbar
       
       > Einmal trat Amanda Lear – eine schwule Ikone – beim Lesbisch-schwulen
       > Straßenfest auf. Unser Autor hat sie damals interviewt und nach ihrer
       > Vergangenheit befragt.
       
   IMG Bild: Posen geht immer: Amanda Lear im Theater des Westens auf dem Roten Teppich der 14. Benefiz-Gala „Künstler gegen Aids“, ein Bild von 2014
       
       Als ich gefragt wurde, ob ich was Retrospektives schreiben möchte, habe ich
       zunächst gezögert, Nostalgie ist nicht so meine Sache. Aber dann bin ich
       doch mit Lust eingetaucht in die Soße der Vergangenheit, man muss es nur
       zulassen, dass sie hochkocht.
       
       Derzeit laufen die Filme [1][„The Book Club“] mit einer bis zum Anschlag
       konservierten spindeldürren Jane Fonda, deren Charakter zudem noch den
       Spitznamen „Slim“ hat. Und [2][„Mamma Mia. Here We Go Again“] mit Cher in
       einer Nebenrolle – als glamouröse Großmutter. Unwillkürlich musste ich an
       meine Begegnung mit Amanda Lear im Jahre 1995 denken. Sie war genauso
       barbieesk und makellos wie die Vorgenannten, hervorragend geeignet als Role
       Model für all jene schwulen Jungs, für die Älterwerden keine Option ist.
       
       Dabei war Amanda damals natürlich viel jünger als Fonda und Cher heute.
       Aber will man wirklich aussehen wie die Popdiva? Ein Gesicht haben, in dem
       sich nur mehr der Mund bewegt? Und ihr staksiger Gang erinnert heutzutage
       mit Verlaub doch ziemlich an den von Goldie Hawn und Meryl Streep in „Der
       Tod steht ihr gut“.
       
       Aus irgendwelchen Gründen nähren solche unkaputtbaren „Ikonen“ wie die
       Popsängerin bei einer Reihe von schwulen Männern die Illusion, man könne in
       Würde altern. Nun ja, mit entsprechendem Budget und einem Zauberspiegel
       kann man zumindest für sich den Anschein erwecken und sich einbilden, man
       hätte ein wenig Würde mitgekauft. Frau Lear jedenfalls lief noch 2012 mit
       73 für eine Schau von [3][Jean-Paul Gaultier], saß im Mai 2018 bei ihm in
       der ersten Reihe und wirkt fast alterslos. Fast. Immer noch eine weitere
       Verkörperung des schwulen Traums von der ewigen Jugend?
       
       ## Glam Rock und Disco-Ära
       
       Die Discoqueen war 1995 – neben Islands schwulem ESC-Star Páll Óskar – für
       das [4][Lesbisch-schwule Straßenfest] engagiert (während die Bühnen
       [5][heute fest in der Hand von LokaltmatadorInnen] sind; gute oder
       schlechte Entwicklung?). Und ich hatte als Leitender Redakteur des schwulen
       Magazins [6][Männer aktuell ] – das in Berlin gemacht wurde – die Ehre,
       Madame zum Interview zu treffen.
       
       Ach ja, die glamourösen 90er. Ich war in der Jury für ein Casting des
       [7][Berliner Pornolabels Cazzo] für einen seiner frühen Filme, drehte mit
       Erika Berger fürs Privatfernsehen oder kürte zusammen mit anderen „Promis“
       in Dresden den Mr. Gay Sachsen. Man kam herum, nahm sich wichtig – und
       alles mit viel Glitzer. Denn man weigerte sich hartnäckig, das Ende von
       Glam Rock und Disco-Ära zu akzeptieren. Und das seit Jahr(zehnt)en.
       
       Die berühmten 15 Minuten Ruhm waren schnell vorbei. Nun fand ich mich in
       den Räumen des [8][New Action] (damals wie heute eine Lederbar mit
       Darkroom) ein, um im kalten Rauch und Poppersmief Amanda Lear für ein
       Interview zu treffen. Nicht besonders glamourös für eine Discoqueen, aber
       effektiv fürs Heft.
       
       ## Früher war eben nicht alles besser
       
       Madame war zum Glück hochgradig umgänglich. Sie berichtete von einer
       bevorstehenden [9][Aids-Gala] in Paris, bei der sie zusammen mit Grace
       Jones, Gloria Gaynor und Boney M auftreten würde, was sie als „Geriatrisch
       Disco“ bezeichnete. „They are too ooold for me, das nenne ich pure
       Nostalgie.“ Da lag sie ganz auf meiner Linie, denn „So toll war Disco auch
       wieder nicht. Das Komische ist immer: Was vorbei ist, ist immer besser.“
       Früher war eben nicht alles besser, sondern nur anders. Und überhaupt kämen
       die Leute nur wegen ihrer alten Platten und „eigentlich, um zu schauen, ob
       ich noch lebe“.
       
       Dann unterbrach ein Impresario unser Gespräch und geleitete sie zur Bühne
       direkt neben dem legendären Fugger-Eck und einem Stundenhotel. Amanda
       raunte mir noch zu: „Wir reden gleich weiter“, und schon war sie in den
       Schwaden der Nebelmaschine verschwunden, um aus denselben wieder
       aufzutauchen und Hits wie [10][„Follow Me“] zu singen. Am Ende holte sie
       ein paar Fans auf die Bühne, die um sie herumtänzelten. Schöneberg war aus
       dem Häuschen. Und sie hielt Wort und kam zurück. Nice!
       
       Was sie nicht wusste, war, dass ich einige ihrer Drag- und
       Transgender-Weggefährten aus ihrer Pariser und auch Berliner Zeit kannte,
       die Stein und Bein schworen, mit ihr zusammen aufgetreten zu sein, sie
       zumindest aus den entsprechenden Zusammenhängen zu kennen. Sie hätte sich
       damals Peki d’Oslo genannt, hieß es. In diversen Memoiren ist das
       nachzulesen, etwa bei [11][Romy Haag], bei der britischen Doyenne April
       Ashley oder bei der französischen Transgenderlegende (hier passt das Wort
       ausnahmsweise mal) Coccinelle.
       
       Gelegentlich ging Lear gegen diese „Verleumdungen“ gerichtlich vor.
       Natürlich habe ich sie auch danach befragt. Sie blieb ganz cool, hatte sie
       doch bereits zu Anfang unseres Gesprächs gepeilt, dass ich ebenfalls mal
       gefummelt habe, wie das früher hieß. Zum Beispiel im „Chez Romy Haag“, dem
       Club von Romy Haag, Anfang der 80er Jahre. Lear dementierte wie gewohnt:
       „Das ist nicht wahr. Das war jemand anderes. Wenn du die Biografien liest,
       wenn ich all das gemacht hätte, müsste ich ja 65 oder gar unsterblich
       sein.“ Ich so: „Ein schöner Schlusssatz.“
       
       ## Einer ihrer Songs heißt „Enigma“
       
       Ihre Replik sagt eigentlich alles: „Noch nicht ganz. Dieses Jahr ist der
       100. Todestag von König Ludwig. Und der hat gesagt: ‚Ich möchte ein Enigma
       sein. Für die anderen und für mich.‘ Auch einer meiner Songs hieß Enigma.
       Voilà!“
       
       Das war ja so gut wie ein Outing, schließlich war ja auch der bayerische
       König als Junge geboren worden, was Amanda für sich aus ihrer Biografie
       gestrichen hatte. Nicht wie die Vorgenannten, die dadurch zu
       trans*-Vorkämpferinnen geworden sind. Sie hatte vielleicht immer nur für
       sich gekämpft.
       
       Anyway, zu guter Letzt gab sie mir mit: „Tschuuuß! I don’t care what you
       write, just put a beautiful photo.“ Damit war sie immerhin angenehm weit
       entfernt vom Autorisierungswahn der Jetztzeit, in der jeder Schuhverkäufer,
       jede Bartschneiderin, jeder Abgeordneten-Azubi sein Zitat freigeben möchte,
       und sei es nur ein einsilbiges „Hach!“.
       
       Damals, 1995 und in den folgenden Jahren, konzentrierte man sich mehr aufs
       Äußere. Hauptsache, die Frisur saß. Modisch waren die 90er Jahre
       unbedeutend und bislang verstörend: Buffalos mit Plateausohlen, bauchfreie
       Tops, und der Tattoowahnsinn begann. George Michael setzte neben Madonna
       den Trend, sich Kreuze um den Hals und ans Ohr zu hängen. All das
       selbstverständlich auch auf der Motzstraße zu besichtigen. Bei
       Aufreißversuchen und Anbahnungsverrenkungen kamen damals immer noch die
       Aidsängste hoch, und man ging wenigstens noch halbwegs gut frisiert ins
       Bett, wenn auch meist allein.
       
       ## „I am the key to your problem“
       
       Berliner Szenelokale hießen Lipstick oder Pool, waren cool und nüchtern,
       schienen etwas von den gefliesten Läden der 80er mitgenommen zu haben.
       Alternativen zum Allzuschick gab es in den verschiedensten Varianten: Das
       Café Anal, Mr X, Stiller Don oder Burgfrieden ziehen da vorbei … Ostberlin
       und Westberlin kamen sich langsam auch ausgehtechnisch näher, und der
       Soundtrack dazu stammte schon zaghaft von Rosenstolz, diesem erstaunlichen
       Phänomen deutsch-deutscher Tonart, dessen Karriere in den 90er Jahren
       begann, dann kräftig anzog und jenes Jahrzehnt um einiges überdauerte.
       Vermutlich, weil sie immer authentisch waren und blieben.
       
       Nicht auszudenken, wenn AnNa R. und [12][Peter Plate], die beiden waren
       [13][Rosenstolz], in die Fänge einer sphinxhaften Frau wie Amanda Lear
       geraten wären: „I am the key to your problem / So follow me / just follow
       me / Unbelievable maybe / You’ll have a new identity / … / I want to change
       your destiny.“ Bloß nicht! Rosenstolz blieben authentisch und ließen die
       90er Jahre hinter sich. Wie auch Amanda Lear und Cher. Letztere hat
       allerdings ihr Gesicht von damals mitgenommen.
       
       4 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.imdb.com/title/tt6857166/
   DIR [2] https://www.imdb.com/title/tt6911608/
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Paul_Gaultier
   DIR [4] https://www.stadtfest.berlin/de/index.html
   DIR [5] /26-Lesbisch-schwules-Stadtfest-Berlin/!5518370
   DIR [6] https://www.facebook.com/maenner.magazin/
   DIR [7] https://de.wikipedia.org/wiki/Cazzo_Film
   DIR [8] http://www.newactionberlin.de/
   DIR [9] https://www.kuenstlergegenaids.de/
   DIR [10] https://www.mojvideo.com/video-follow-me-amanda-lear/4444eab5d46b0fb45061
   DIR [11] https://romyhaag.de/
   DIR [12] /Peter-Plate-ueber-Rampensaeue-und-Flops/!5035411
   DIR [13] https://de.wikipedia.org/wiki/Rosenstolz
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Hermann
       
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