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       # taz.de -- Leben in Flüchtlingsheimen: „Das ist nicht Deutschland“
       
       > Ratten und Kakerlaken, getrennte Unterbringung von Familien: ein
       > Pilotprojekt sammelt nun Beschwerden in Berliner Flüchtlingsheimen.
       
   IMG Bild: Integrationslotsin Birivan Mahmoud in einem Heim in Pankow
       
       „Gott sei Dank kommt mal jemand!“ Diesen Satz hat Mohamed Ebrahim anfangs
       oft gehört. Im Auftrag des Landes besucht er Flüchtlingsheime und fragt die
       BewohnerInnen nach ihren Problemen. Da bekommen er und seine fünf
       KollegInnen einiges zu hören: von Ratten und Kakerlaken, schikanösen
       MitarbeiterInnen, kaputten Waschmaschinen, die nicht repariert werden,
       fehlenden Kitaplätzen, getrennter Unterbringung von Eheleuten oder von
       Eltern und ihren (jugendlichen) Kindern, von Security-Männern, die nachts
       ins Zimmer kommen, unpraktikablen Besuchsregeln, unfreundlichen
       Behördenmitarbeitern und, und, und. In einem Heim, erzählt Ebrahims
       Kollegin Namarek Al Shallal aus Irak, seien die Zustände so katastrophal,
       dass sie beim ersten Besuch dachte: „Das ist nicht Deutschland, nicht
       Europa!“
       
       Seit gut einem Monat sind die sechs „mobilen Integrationslotsen“ unterwegs
       für das Pilotprojekt „Unabhängiges Beschwerdemanagement in
       Flüchtlingsunterkünften“. Fünf Heime von fünf verschiedenen Trägern in vier
       Bezirken – Pankow, Reinickendorf, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg –
       beteiligen sich. Jeden Nachmittag gehen die LotsInnen in eine andere
       Unterkunft, klopfen mit einem Fragebogen an Zimmertüren und interviewen
       BewohnerInnen.
       
       Vormittags dokumentieren die LotsInnen, die selbst Geflüchtete sind oder
       Migrationserfahrung haben, ihre Ergebnisse vom Vortag und geben sie weiter
       an den Projektkoordinator, den Bildungsträger GFBM, der die Beschwerden an
       die richtigen Adressaten weiterleitet und die Problemlösung verfolgt. Die
       Alice-Salomon-Hochschule begleitet das Projekt wissenschaftlich, nach einem
       halben Jahr wird ausgewertet. Ziel: ein stadtweites Beschwerdesystem für
       Heimbewohner – seien sie Geflüchtete oder Wohnungslose. Einen solchen
       „Heim-TÜV“ hat sich Rot-Rot-Grün bereits im Koalitionsvertrag vorgenommen.
       
       ## Bisher kaum Kontrollen
       
       Bislang ist es nämlich für Geflüchtete sehr schwierig, sich gegen
       Missstände in ihren Heimen effektiv zu wehren. Dies beklagen Betroffene,
       Ehrenamtliche und Organisationen wie der Flüchtlingsrat seit Jahren. Zwar
       haben die meisten Heime „Beschwerdebriefkästen“ oder Ähnliches – aber fragt
       man BewohnerInnen danach, wissen sie oft nicht, wofür sie gut sind. Auch
       gibt es eine Abteilung Qualitätssicherung im zuständigen Landesamt für
       Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), doch Informationen darüber gibt es,
       googelt man mit entsprechenden Stichwörtern, nur auf Deutsch. Zudem ist die
       zuständige Sachbearbeiterin nur per E-Mail erreichbar – für viele
       Geflüchtete eine zu große Hürde.
       
       Zwar kontrolliert das Amt turnusmäßig, ob vertraglich mit den Betreibern
       vereinbarte Qualitätsstandards eingehalten werden – nach vorheriger
       Terminabsprache mit der Heimleitung, was Betreiber laut Berichten von
       Flüchtlingen öfter dazu nutzen, Missstände nur für den Besuch vom LAF zu
       beseitigen. Das Amt selbst erklärte kürzlich: „Die Qualitätssicherung
       kontrolliert die Sicherheit und Qualität der landeseigenen Unterkünfte.
       Dazu hat das Team seit 2017 rund 230 Begehungen durchgeführt, 120 davon
       fanden im Rahmen des LAF-Beschwerdemanagements statt.“ Diese 120 Kontrollen
       hätten unangemeldet stattgefunden.
       
       Flüchtlingsinitiativen bestätigen, dass sich die Situation in letzter Zeit
       insoweit verbessert habe, als eingehende Beschwerden vom Amt inzwischen
       fast durchweg überprüft beziehungsweise eine Stellungnahme dazu
       eingefordert werde. Allerdings würden dabei primär Heimleitung und/oder
       Betreiber befragt, nicht aber BewohnerInnen. Zudem seien mögliche Folgen
       oder Sanktionen bei Nicht-Einhaltung der Qualitätsstandards „nicht
       transparent, sodass Bewohner_innen und NGOs die unzureichenden Konsequenzen
       bei festgestellten Defiziten in den Unterkünften bemängeln“, wie die
       Monitoring Group Berlin im Januar in einem Policy Paper zum Berliner
       Beschwerdemanagement in Geflüchtetenunterkünften schrieb.
       
       Die Monitoring Group, ein Zusammenschluss von rund 90 Frauen aus
       Flüchtlingsunterkünften, ist eine der treibenden Kräfte hinter dem
       aktuellen Modellprojekt. Al Shallal, eine der Gründerinnen, erzählt von den
       Anfängen im „Flüchtlingssommer“ 2015, als die Zustände in den vielen
       Notunterkünften der Stadt besonders katastrophal waren. Damals findet sich
       in einer Pankower Turnhalle eine Gruppe von Flüchtlingen zusammen, um
       etwas zu unternehmen. „Es war ganz schrecklich“, erinnert sie sich:
       vergammeltes Essen, sexuelle Übergriffe und Diebstähle durch
       Security-Mitarbeiter, Pritschen als Betten, nur notdürftig abgeteilt mit
       Stoffbahnen, keine Privatsphäre.
       
       Die Flüchtlinge gründen einen BewohnerInnen-Rat, später, nach dem Umzug in
       die Gemeinschaftsunterkunft Treskowstraße (ebenfalls in Pankow), einen
       Frauen-Rat. Immer mehr Betroffene aus anderen Heimen und Bezirken wollen
       mitmachen, es entsteht die „Monitoring Group“. Die Frauen wollen ihren
       Alltag in den Unterkünften verbessern und über ihre Rechte Bescheid wissen.
       Sie schreiben Beschwerdebriefe, treffen sich mit Verwaltungsleuten von
       Bezirk und Senat, mit Politikern bis hinauf zum Staatssekretär.
       
       Die Gruppe wird vom Senat eingeladen, am neuen „Gesamtkonzept zur
       Integration und Partizipation Geflüchteter“ mitzuarbeiten, und bringt in
       Arbeitsgruppen ihre Forderung nach einem Beschwerdesystem ein. „Erst hieß
       es, dafür sei kein Geld da“, erzählt Mira aus Ägypten, die zusammen mit Al
       Shallal zu den Treffen geht.
       
       ## Projektmittel 50.000 Euro
       
       Jetzt gibt es doch welches – 50.000 Euro aus dem Fonds für ehrenamtliche
       Arbeit hat die Sozialverwaltung für das Pilotprojekt lockergemacht. Davon
       werden die sechs LotsInnen bezahlt, darunter Al Shallal und ihre Mutter von
       der Monitoring Group, der Projektkoordinator sowie gegebenenfalls
       DolmetscherInnen – falls die sieben Sprachen, die die LotsInnen mitbringen,
       für den Dialog mit den BewohnerInnen nicht ausreichen. Im nächsten
       Doppelhaushalt solle es einen eigenen Titel für das Projekt geben, erklärt
       Sprecherin Regina Kneiding.
       
       Mira heißt übrigens anders, möchte aber aus Angst vor Repressionen lieber
       nicht ihren Namen in der Zeitung lesen. Sie stieß vor zwei Jahren zur
       Monitoring Group, als sie in ihrer ehemaligen Unterkunft im Rathaus
       Friedenau für bessere Zustände kämpfte. Einmal hätten Dutzende Frauen aus
       dem Heim einen Beschwerdebrief ans LAF geschrieben, erzählt sie – und nie
       eine Antwort bekommen. Aber das Amt habe offensichtlich die Heimleitung
       informiert. „Die hat uns dann gedroht, bei weiteren Beschwerden würden
       unsere Asylanträge abgelehnt und wir würden abgeschoben.“
       
       Vor so etwas hätten viele Flüchtlinge Angst, weiß Al Shallal. Bei ihren
       ersten Besuchen in den Heimen habe daher auch kaum jemand geredet. Langsam
       aber fassten die BewohnerInnen Vertrauen – auch weil die LotsInnen bewusst
       Distanz zu den Heimleitungen hielten. „Umso wichtiger ist jetzt, dass es
       für die dringlichsten Probleme schnelle Lösungen gibt. Sonst glauben uns
       die Leute nicht mehr.“
       
       Ob das Projekt ein Erfolg wird? Al Shallal, die nach fast drei Jahren in
       Berlin selbst noch immer im Heim lebt, hofft es sehr – vielen Geflüchteten
       wäre damit sehr geholfen. „Sonst wäre ich sehr enttäuscht.“
       
       Mira macht sich nicht allzu große Hoffnungen. „Das ist eine Frage von
       Macht“, sagt sie. In einem weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschlossen
       Heimsystem werde es immer Oben und Unten geben – und Flüchtlinge hätten
       eben nichts in der Hand. „Letztlich werden uns nur Wohnungen helfen.“
       
       2 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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