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       # taz.de -- Autismus in Film und Fernsehen: Die neue Nerdigkeit
       
       > Fernsehserien haben autistische Figuren für sich entdeckt. Für Menschen
       > im Autismus-Spektrum ist das ein zwiespältiger Trend.
       
   IMG Bild: Die Figur Sam Gardner (Keir Gilchrist) ist ein Paradebeispiel für den neuen „Autismus-Trend“
       
       In letzter Zeit beschäftigen sich Drehbuchautoren zunehmend mit Varianten
       des Autismus. Lange war der Hauptcharakter aus dem Film „Rain Man“ von 1988
       der einzige weitläufig bekannte autistische Charakter in Film und
       Fernsehen. Der insgesamt viermal oscarprämierte Film taucht auch heute noch
       in zahlreichen Artikeln auf, in denen versucht wird, Autismus
       allgemeinverständlich zu erklären. In jüngeren Produktionen aber tauchen
       plötzlich etliche Beispiele auf, etwa Sheldon Cooper aus „The Big Bang
       Theory“ oder „Sherlock“ aus der gleichnamigen Serie.
       
       Autismus ist den meisten Zuschauern auch 24 Jahre nach der Einführung der
       Diagnose „Asperger-Syndrom“ nicht näher bekannt. Und so prägen vor allem
       beliebte Fernsehserien das Wissen über Autismus.
       
       Allgemein gesprochen handelt es sich bei Autismus um eine sogenannte
       tiefgreifende Entwicklungsstörung. Sie ist angeboren und zeichnet sich
       durch Probleme im sozialen Bereich, in der Kommunikation, sich
       wiederholenden Verhaltensweisen und einer veränderten Reizverarbeitung aus.
       
       Häufig wird noch zwischen frühkindlichem, atypischem sowie
       Asperger-Autismus unterschieden, jedoch gilt diese Unterscheidung wegen
       fließender Übergänge zwischen den Diagnosen inzwischen als veraltet. In den
       USA wird inzwischen „Autismus-Spektrum-Störung“ als Sammelbegriff für eine
       Vielzahl an Symptomen und Ausprägungen benutzt.
       
       ## „Autist“ heißt nicht „Genie“
       
       Eine so komplexe Behinderung glaubhaft und realistisch rüberzubringen ist
       eine Herausforderung. Kein einziger Seriencharakter kann je das komplette
       Spektrum repräsentieren. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass die
       Möglichkeiten der Charaktergestaltung enorm vielfältig sind.
       
       Allerdings scheinen die Autoren bei ihren Figuren immer wieder bestimmte
       Eigenschaften überzeichnen zu wollen. Etwa das Problem mit bildhaften
       Sprichwörtern. Auch scheint bislang jede autistische Figur ihre Behinderung
       durch eine besondere Begabung ausgleichen zu müssen.
       
       Im ZDF zeigt „Ella Schön“ aus der gleichnamigen Serie eine enorme
       Fachkompetenz im juristischen Bereich. Bei „The Good Doctor“ darf die
       autistische Hauptfigur Dr. Murphy in der Medizin als inselbegabtes Genie
       glänzen. Der autistische Protagonist aus „Atypical“, Sam Gardner, darf ein
       ausgezeichneter Schüler sein.
       
       Sie alle stehen in dem Punkt in einer Tradition mit „Rain Man“. Basierend
       auf dem Savant Kim Peek wies dieser Charakter eine Inselbegabung auf – was
       an sich keine Eigenschaft von Autismus ist. Die Autoren von „Rain Man“
       wurden damit Erfinder eines Klischees: Autisten als Menschen mit einem
       herausragenden Talent. Dazu kennen autistische Charaktere häufig keinerlei
       Gefühle, was ebenfalls ein Vorurteil ist – ein sehr böswilliges und längst
       widerlegtes.
       
       Starke Überzeichnungen 
       
       Auch ein zwanghaftes Ordnungsverhalten ist bei vielen fiktiven
       Darstellungen von Autisten zu beobachten, obwohl dies kein Symptom von
       Autismus ist. Das Problem mit Sprichwörtern wiederum ist für autistische
       Kinder durchaus nicht unüblich – wird in der Popkultur aber oft zu einem
       kompletten Unverständnis umgeschrieben, auch bei erwachsenen autistischen
       Figuren.
       
       Schwierig ist, dass nicht alle Fernsehcharaktere eindeutig als Autisten
       benannt werden. Andere repräsentieren nur Aspekte – oder eben Vorurteile –
       von Autismus und werden dadurch von vielen Zuschauern als solche erkannt,
       obwohl eine Diagnose nie Thema ist. Dazu gehört Sheldon Cooper aus „The Big
       Bang Theory“. Die Macher der beliebten Sitcom haben dies weder bestätigt
       noch abgestritten. Fest steht, dass Sheldon Cooper Charaktereigenschaften
       hat, die mit Autismus übereinstimmen – allerdings ebenfalls stark
       überzeichnet.
       
       Oft reicht es schon aus, ein sozial unbeholfener „Nerd“ zu sein, um als
       Autist zu gelten. Unabhängig davon, ob die Diagnose tatsächlich zutreffend
       ist oder nicht. So werden auch Adrian Monk und Dr. House teilweise in den
       sozialen Medien und auch in Artikeln von Zuschauern als Autisten
       bezeichnet, obwohl es bei beiden Figuren kaum zutrifft. Ein weiteres
       Beispiel ist Saga Noren aus „Die Brücke“.
       
       Für autistische Zuschauer ist die erhöhte Präsenz in den Medien ambivalent.
       Einerseits gibt es mehr Sichtbarkeit. Andererseits begünstigt die Art der
       Darstellung von Autismus in den Medien Vorurteile, und die können reale
       Konsequenzen für Autisten haben. Auch 30 Jahre nach „Rain Man“ können viele
       Zuschauer nicht sauber zwischen Fiktion und Realität trennen. Was ist
       Autismus, was ist Inselbegabung? Muss man ein Genie sein, um soziale
       Schwierigkeiten auszugleichen?
       
       ## Schaukeln und Schreien
       
       Das ZDF und die Produktionsfirma der neuen Serie „Ella Schön“ wurden von
       Betroffenen auf die klischeehafte Darstellung der Hauptfigur hingewiesen.
       Die Kritik wischte der Sender jedoch weg mit dem Hinweis, immerhin sei das
       alles nur Fiktion und keine Dokumentation, weshalb man Ungenauigkeiten in
       der Darstellung akzeptieren müsse. Wer sich genauer über Autismus
       informieren wolle, könne dies über geeignetere Quellen tun. Eine
       eigenartige Vorstellung davon, wie Menschen Medien konsumieren. Viele sehen
       die Fiktion wenn nicht als Realität, dann zumindest als Referenz für die
       Realität.
       
       Und doch ist nicht alles in der Darstellung von Autismus negativ.
       Allmählicher Fortschritt macht sich durchaus bemerkbar. Bei „Ella Schön“
       und „Atypical“ findet die lange ignorierte veränderte Reizverarbeitung bei
       Autismus Berücksichtigung. Die typischen Momente der Reizüberflutung,
       genannt „Overloads“, werden nicht mehr als grundlose Handlungsunfähigkeit
       oder Schaukeln mit Schreien dargestellt, sondern korrekt als Reaktion auf
       eine Überforderung. Gerade „Atypical“ schafft es in mehreren Szenen, die
       Belastung eines Autisten durch die Darstellung einer mit Reizen überfüllten
       Umwelt zu transportieren.
       
       Es entstehen immer mehr Figuren, in denen sich viele Autisten tatsächlich
       wiederfinden. Dennoch wäre es wünschenswert, würden die Drehbuchautoren
       sich von jahrelang durchgekauten Klischees verabschieden und etwas Neues
       und Ungewöhnliches wagen.
       
       Ein Autist, in dessen Wohnung Chaos statt Unordnung herrscht. Ein Autist,
       der eine gleichberechtigte Beziehung führt. Vor allem sollte es üblich
       werden, auch Autisten in die Entwicklung von Geschichten über sie
       einzubinden. Denn ihnen fällt am ehesten auf, wann die Grenze zwischen Fakt
       und Vorurteil überschritten wird.
       
       4 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Lüben
       
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