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       # taz.de -- Die Wahrheit: Problemzone Rumpsteak
       
       > Statt eine Nachrufs: Kurt Scheels Beitrag zur legendären Serie „Wahre
       > Lokale“ über das Wirtshaus „Zur Schleuse“ im längst planierten
       > Hamburg-Altenwerder.
       
   IMG Bild: Kurt Scheel – der große Erklärer mit Witz
       
       Am Dienstag verstarb im Alter von siebzig Jahren der frühere
       „Merkur“-Herausgeber und langjährige Wahrheit-Autor Kurt Scheel. Aus diesem
       traurigen Anlass veröffentlichen wir noch einmal seinen damaligen Beitrag
       zu unserer Serie „Wahre Lokale“ aus dem Jahr 2000. Eine Reminiszenz an
       seinen Kindheitsort. 
       
       Wenn ich die wichtigsten Kneipen meines Lebens vor meinem geistigen Auge
       vorüberziehen lasse, überkommt mich Wehmut: Ob groß oder klein, ob elegant
       oder schäbig, ob blond oder braun – sie waren alle schön in ihrer Weise,
       ich habe sie alle geliebt in meiner – zugegeben: bizarren – Weise. Aber das
       liegt jetzt lange hinter mir. Aus einem gefürchteten Kneipengänger und
       Spelunken-Roué ist ein nachdenklicher, selbstkritischer Mitbürger geworden,
       der nichts bereut, aber vielleicht doch einige seiner Erfahrungen
       weitergeben kann an junge Menschenkinder, die das Leben noch vor sich
       haben.
       
       So kehre ich also zurück zur Stätte meiner Kindheit und Jugend: Hier, auf
       dieser kleinen Elbinsel Altenwerder, begann alles. „Zur Schleuse“ steht
       über der Tür, und gleich darunter „Paul Schwartau“, das ist der Name des
       Wirtes. Doch was nützt es ihm? Jedermann nennt ihn „Paul Pogel“ – hier
       schon klingt das Vergeblichkeits- und Trauermotiv ein erstes Mal an, und
       das hat folgende Bewandtnis: Der Gründer des Lokals war ein gewisser
       „Pagel“ gewesen, und im Plattdeutschen, das die zweite Lautverschiebung
       bekanntlich nicht mitgemacht hat, wird ein A häufig als O ausgesprochen
       beziehungsweise aspiriert.
       
       ## Durstige Seelen
       
       Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit aber auf etwas noch Wichtigeres lenken, den
       Namen der Kneipe. Sind nicht recht eigentlich betrachtet alle Lokale und
       besonders die „wahren“, die diese Serie ja angeblich porträtieren will,
       „Schleusen“? Also Örtlichkeiten, in denen es zuvörderst um die Verteilung
       von Flüssigem geht, in denen eine kundige Hand klüglich die Zufuhr von
       Kaltgetränken reguliert nach Maßgabe der Frage, ob eine durstige Seele bzw.
       Kehle weiterhin genetzt werden kann oder der zulässige Pegelstand
       vielleicht doch erreicht oder gar überschritten ward?
       
       Schon der Name verweist also auf den Arche-Typos, auf den Anspruch des
       „wahrsten Lokals“; umso mehr die Figur des „Schleusenwärters“: Paul Pogel
       war ein begnadeter Kneipier, die Inkarnation des Wirtes als Freund und
       Zuchtmeister seiner bunt zusammengewürfelten Truppe. Aus aller Herren
       Länder waren sie gekommen und saßen nun stumpf stierend vor ihren schalen
       Bieren: ehemalige Obristen von den Gewürzinseln, eine abgetakelte
       Tippmamsell aus Elmshorn, „Halbstarke“ und Ganztagsschullehrer e tutti
       quanti. Was hinderte sie, übereinander herzufallen, „Pogo“ oder „Gabba“ zu
       machen, den „Bär“ tanzen zu lassen? Die Antwort: Paul Pogel.
       
       Groß gewachsen, stattlich – aber behänd und flink; von natürlicher
       Autorität, mit einem prüfenden Blick die Meute kontrollierend, ja
       einschüchternd, doch dabei mit angelsächsischer Lässigkeit das schmackhafte
       Astra-Bier in die dafür eigens angeschafften „Tulpen“ beziehungsweise
       Halblitergläser zapfend und, hast du nicht gesehen, zwei eiskalte Körner
       aufs Tablett zaubernd: So steht er nun vor dir mit breitem Grinsen, und
       niemand wagt sich zu rühren. Man könnte eine Steckrübe fallen hören – doch
       da ertönt aus der Musikbox (ich weiß, dass Wichtigtuer „Jukebox“ sagen)
       „Ich hab Bohnen in die Ohrn“ von Gus Backus, und schon ist der Bann
       gebrochen, beginnt wieder das Plärren der ewig gleichen Gespräche.
       
       ## Steak in Bierdeckelgröße
       
       Aber nicht nur Bier, Schnaps, Brause und Cola werden zügig ausgeschenkt,
       auch für den kleinen Hunger zwischendurch ist gesorgt. Spezialität des
       Hauses ist die Currywurst, wahlweise mit Brot oder Fritten; auch die
       Würstchen mit Kartoffelsalat werden gern genommen. Als Problemzone erweist
       sich indes das Rumpsteak. Ordert der Gast es „durchgebraten“, schrumpft es
       naturgemäß zu Bierdeckelgröße, was Maulen und Widerworte beim Kunden
       hervorruft – und in Sekundenschnelle verwandelt sich unser gutmütiger Wirt,
       dieser Bonhomme par excellence, in einen Wüterich, die Reklamation mit
       groben Worten zurückweisend, ja körperlicher Gewaltanwendung nicht
       abgeneigt. Noch ein Wort zur Einrichtung: Sie ist schlicht, Resopaltische
       der ersten Generation, bequeme Sitzbänke, strapazierfähige Stühle ohne
       Sitzkissen; große Aschenbecher („haizara“ auf japanisch, aber das nur
       nebenbei), Vasen mit Echtblumen: Das Auge trinkt ja mit. Also eigentlich
       nichts Besonderes, sagen Sie – aber sind wir nicht alle etwas Besonderes,
       einmalig wie Peter Rühmkorf? Ist es denn nicht mein einzigartiges,
       besonderes Leben, das hier verpfuscht wurde? Ich frage ja nur . . .
       
       Längst ist das Haus abgerissen, eine Menschen verachtende Politik der
       sogenannten Hafenerweiterung hat die schöne Elbinsel Altenwerder in den
       achtziger Jahren planiert – aber in meinem Herzen, in meiner Leber werden
       die „Schleuse“ und ihr Wirt unvergessen bleiben.
       
       2 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kurt Scheel
       
       ## TAGS
       
   DIR Stadtentwicklung Hamburg
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   DIR Tourismus
   DIR Burka
       
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