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       # taz.de -- Marx-Engels-Gesamtausgabe: Arbeit an den Werkzeugen
       
       > Die neue Edition der „Deutschen Ideologie“ ist keine Strandlektüre. Doch
       > vor der Akribie der Herausgeber kann man sich nur verneigen.
       
   IMG Bild: So akribisch wie die Zahnpflege dieser Engels-Bronze war auch die Leistung der Herausgeber
       
       „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Auch wer nie einen Blick in die Werke
       von Marx und Engels geworfen hat, zitiert diesen vermeintlichen Hauptsatz
       aus der „Deutschen Ideologie“. Der Satz hat sich zum bleiernen
       Volksvorurteil verdichtet, wenn es um den angeblichen Kern des „Marxismus“
       geht.
       
       Doch es gibt kein von Marx und Engels verfasstes Buch mit dem Titel
       „Deutsche Ideologie“. In den 18 überlieferten Texten steht der Satz nicht
       und das Titelwort „Deutsche Ideologie“ kommt darin auch nicht vor. Die
       Manuskripte umfassen gedruckt über 500 Druckseiten [1][in der neuen
       „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ (MEGA2).] 
       
       Sie ist die Nachfolgerin der ersten MEGA, die Stalin 1941 stoppte. Er ließ
       die Redakteure umbringen oder in Arbeitslagern verschwinden. Die
       Manuskripte, Notizen und Entwürfe waren im „politischen Handgemenge“ mit
       den Zeitgenossen Bruno Bauer, Max Stirner und Ludwig Feuerbach entstanden.
       
       Ein einziges Mal in seinem Leben erwähnte Marx in einer Presseerklärung
       gegen Karl Grün vom 8. 4. 1847 den Titel des geplanten Buchprojekts
       „Deutsche Ideologie“. Zwölf Jahre später bezog er sich im Vorwort „Zur
       Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859 auf das mit Engels zusammen
       verfasste Manuskript, ohne den Titel zu nennen. Er sprach nun von der
       Abrechnung „unserer Ansicht gegen die ideologische der deutschen
       Philosophie“ und meinte: „Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik
       der Mäuse umso williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten –
       Selbstverständigung.“
       
       ## Politisch-ideologisches Diktat
       
       Teile der überlieferten Manuskripte sind tatsächlich durch Mäusefraß
       zerstört oder anders verloren gegangen. Der Hauptzweck – die
       Selbstverständigung der beiden – ist belegbar.
       
       Der Engels-Biograf Gustav Mayer sprach von einer „im verwegendsten Sinne
       kollektiven Arbeit.“ Viele Einsichten in die Arbeitsweise von Marx und
       Engels verdanken sich der Studie von Galina Golowina (1979/80) über den
       Briefwechsel von Marx und Engels untereinander, mit Dritten und von
       Dritten.
       
       Die Kompilation der Manuskripte, Notizen und Entwürfe zur „Deutschen
       Ideologie“ besorgten die jeweiligen Herausgeber David Rjazanow (1923) und
       Viktor Adoratzkij in der Sowjetunion (1932 in der ersten MEGA) und
       Siegfried Landshut und Paul Mayer in der ebenfalls 1932 erschienen Ausgabe
       unter dem Titel „Der historische Materialismus. Die Frühschriften“. 1958
       erschien in der DDR, als Band 3 der Marx-Engels-Werke (MEW), eine textlich
       zuverlässige, in der Ordnung der Manuskripte aber defizitäre Ausgabe,
       betreut vom „Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU“ bzw. dem
       ZK der SED.
       
       Alle Ausgaben gaben den Manuskripten Titel und versuchten mit Überschriften
       und Zwischentiteln dem fragmentarischen Material eine größere Systematik zu
       verleihen. Diese editorischen Ergänzungen standen in der Sowjetunion und in
       der DDR unter dem politisch-ideologischen Diktat, aus den vorliegenden,
       lückenhaften Texten „ein abgeschlossenes Werk zu rekonstruieren, das als
       Gründungsschrift des historischen Materialismus gelten sollte“.
       
       ## Akribische Forschungen
       
       Erst mit dem Beginn der MEGA2 1972 in der DDR wurde auf solche politischen
       Vorgaben verzichtet und die Manuskripte wurden in der „Form ihrer
       Überlieferung“ ediert. Das überaus beeindruckende Ergebnis ist der
       vorliegende Band, der in jeder Hinsicht eine editorische Spitzenleistung
       darstellt.
       
       Um den Zwiespalt zwischen Manuskripten, Edition und deren
       Instrumentalisierung (nicht im Text, aber in den Kommentaren und Vorworten)
       zu verdeutlichen, genügt ein Blick in das für den Marxismus-Leninismus von
       den 60er Jahren bis 1989 in der DDR maßgebliche „Philosophische Wörterbuch“
       von Georg Klaus und Manfred Buhr. Das in einer riesigen Auflage von rund
       einer halben Million Exemplaren verbreitete Werk sah in der „Deutschen
       Ideologie“ die „Hauptthesen des historischen Materialismus“, den
       „Grundgedanken der neuen Weltanschauung zum ersten Mal systematisch“
       dargelegt.
       
       „In der ‚Deutschen Ideologie‘ wurde die Ausarbeitung der neuen
       Weltanschauung im Wesentlichen abgeschlossen“ und als „einheitliches
       System“ präsentiert, das in seiner „Gesamtheit, Geschlossenheit und
       Folgerichtigkeit“ die „philosophischen, ökonomischen und politischen
       Lehren“ des Marxismus-Leninismus enthalte.
       
       Daran ist nach den akribischen Forschungen und überzeugenden Befunden von
       Gerald Hubmann, Ulrich Pagel und Christine Weckwerth gerade so noch viel
       richtig, dass Marx und Engels in den für eine Vierteljahresschrift
       geplanten Beiträgen gegen Bauer und Stirner auch ihre politische und
       philosophische Position gegenüber dem wichtigsten Impulsgeber in der
       Debatte über Sozialismus – Ludwig Feuerbach – präzisieren mussten.
       
       ## Ökonomie als Abkehr von der Philosophie
       
       In ihrer früheren Kritik hatten Marx und Engels Feuerbach 1845 noch
       verteidigt und ihm das Verdienst zugesprochen, die Kritik „aus dem Himmel
       der Spekulation in die Tiefe des menschlichen Elends“ geführt zu haben –
       zum „wirklichen Menschen“. In der neuerlichen Auseinandersetzung mit
       Feuerbach verdeutlichten Marx und Engels 1846 ihre politische Position
       unter dem Eindruck vertiefter Studien der Ökonomie als Abkehr von der
       Philosophie und Hinwendung zur „positiven Wissenschaft“.
       
       Das längste Manuskript (rund 450 Seiten) beschäftigt sich mit Max Stirner.
       Die hier entwickelten Begriffe „Ideologie“, „Kleinbürger“ und „bürgerliche
       Gesellschaft“ bauten Marx und Engels nachträglich in das zuletzt
       entstandene, um die Systematisierung ihrer Ansichten bemühte
       Feuerbach-Kapitel ein. Sie verstanden dabei „Ideologie“ immer kritisch und
       drehten den Begriff nicht ins Affirmative wie die sich selbst betäubende
       „Ideo-Magie“ (Helmut Fleischer) des orthodoxen Marxismus-Leninismus.
       
       Auch das Feuerbach-Kapitel blieb, entgegen der Meinung des späten Engels,
       fragmentarisch. Die angeblich vorliegende „materialistische
       Geschichtsauffassung“ oder „Philosophie des historischen Materialismus“ ist
       eine Selbsttäuschung bzw. Fiktion der Editoren, die von den überlieferten
       Textzeugen nicht gedeckt wird.
       
       Der Begriff „historischer Materialismus“ kommt in den Manuskripten gar
       nicht vor. An einer einzigen Stelle ist von der „materialistischen, nicht
       voraussetzungslosen, sondern die wirklichen materiellen Voraussetzungen als
       solche empirisch beobachtenden und darum erst wirklich kritischen
       Anschauung der Welt“ die Rede. Engels’ Notiz auf einer Manuskriptseite –
       „Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung“ – stammt
       aus dem Jahr 1883 und verdankt sich nicht der gemeinsamen Arbeit mit Marx
       in den 1840er Jahren, sondern Engels’ späteren naturwissenschaftlichen
       Studien und naturphilosophischen Spekulationen.
       
       ## Tradition der Aufklärung
       
       Die neue Edition der „Deutschen Ideologie“ macht deutlich, wie wenig Marx
       mit dem mechanischen bzw. naturalistischen Determinationsverhältnis von
       Basis und Überbau bzw. einem „neuen Materialismus“ im Sinne des Satzes,
       „das Sein bestimmt das Bewusstsein“, oder einer „materialistischen
       Weltanschauung“, wie sie der „Marxismus-Leninismus“ verkündete, zu tun hat.
       
       Die Edition dokumentiert präzise das Ringen um die Darstellung der
       Beziehungen von „Ideen, Vorstellungen, Bewusstsein“ mit „materieller
       Tätigkeit, materiellem Verkehr“ und „Sprache des wirklichen Lebens“. Marx’
       Kritik beruhte auf seinem an Hegel orientiertem Verständnis von Arbeit als
       menschlicher Selbsttätigkeit und Weltveränderung.
       
       Er folgte also nicht einem kruden naturwissenschaftlich-naturalistisch
       verstandenen Materialismus, sondern der Tradition der Aufklärung, die
       Emanzipation als Befreiung des Menschen „aus der Vormundschaft der Natur“
       durch Vernunft und Arbeit verstand. Die Edition verfolgt selbst minimale
       Korrekturen und Ergänzungen von Marx und Engels in den Manuskripten und
       dokumentiert diese im 1.894 Seiten umfassenden, selbst mikroskopische
       Änderungen registrierenden Kommentarband.
       
       Natürlich ist die prächtige, sieben Pfund schwere Edition keine
       Strandlektüre. Sie ist aber für Wissenschaftler, die sich ernsthaft mit
       Marx und Engels auseinandersetzen, ein unverzichtbares Arbeitsinstrument.
       [2][Man kann sich vor der akribischen Gelehrsamkeit des Herausgeberteams
       nur verneigen] und die Institutionen beglückwünschen, die die Edition
       finanzieren.
       
       8 Aug 2018
       
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