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       # taz.de -- 30 Jahre Schmidt-Theater auf St. Pauli: Das Theater des anderen Hamburg
       
       > Zu schwul und zu schräg: Nicht jeder hätte diesem Haus eine Zukunft
       > vorausgesagt. Aber am 8. August feiert das Schmidt-Theater auf St. Pauli
       > sein 30-jähriges Bestehen.
       
   IMG Bild: Da waren bereits über zehn Jahre geschafft: Theatergründer Corny Littmann im August 1999
       
       Gentrification: Das Wort existierte damals noch nicht. Als es dann zur
       Alltagsvokabel eingeweihter Linker wurde, war das, was es meint, mit
       Hamburg-St. Pauli längst passiert: Die Verwandlung eines metropolen
       Viertels nach dem Prinzip „Hässliches Entlein“. Oder nennen wir es den
       „Aschenputtel“-Modus – Schönheit und Auserwähltheit auf den zweiten Blick.
       
       St. Pauli jedenfalls war in den siebziger Jahren, was ja bald auch schon
       ein halbes Jahrhundert zurückliegt, das hansestädtische No-Go, allem
       „Starclub“ und der „Großen Freiheit“ zum Trotz. Beatles, Tony Sheridan,
       lokale oder spätere Weltberühmtheiten hin oder her: St. Pauli war, man
       glaubt es heute kaum noch, echter Schmutz.
       
       In den Hinterhöfen roch es mies und faulig, die Fassaden waren ungepflegt,
       die Kneipen atmeten noch nicht die gediegene Atmosphäre szeneastischer
       Präsenz. Auf St. Pauli traf man, [1][Heinz Strunks Roman „Der goldene
       Handschuh“] bezeugt das glaubwürdig, Leute, die man aussätzig nennen
       könnte, sprachlich von größter Ferne zu mittelschichtiger Politkorrektheit
       – rund um das Millerntor, das war das Revier der unfeinen Leute.
       
       Okay, in einigen Seitenstraßen wohnten schon damals die ersten alternativen
       Emporkömmlinge: Für Eppendorf und seine Onkel-Pö-Kultur zu arm und dunkel,
       für das traditionsbürgerliche Hamburg ohnehin verloren. Corny Littmann
       wohnte dort, in seiner WG, in der die Produktionen seiner
       „Brühwarm“-Erfolge entstanden.
       
       ## Das Gefühl von Echtheit
       
       So um die frühen achtziger Jahre wurde es auf St. Pauli in der Tat
       alternativer, zugänglicher sozusagen: Die militant eroberten
       Hafenstraßen-Häuser, ein, wie sich immer leicht prognostizieren ließ,
       alternativ-autonomes Reihenhausprojekt in bester Lage, taten das Ihre, St.
       Pauli, das Schmuddelviertel am Hafensaum, so fett wie kein anderes Quartier
       auf die To-Go-Out-Karte zu hieven.
       
       Der FC St. Pauli, ehemals ein räudiger Verein am Millerntor, nicht ernst zu
       nehmen von der Hamburger Fußballbevölkerung, weil der HSV nun einmal der
       Dominator war, wuchs – auch mit Hilfe der taz Hamburg – per Imagetransfer
       zu einer Marke antirassistischen, multikulturellen Kalibers heran.
       
       Pauli, das war Basis, das war vor allem das Gefühl von Echtheit, nicht von
       gepuderter Falschheit, als die man das patrizische Hanseatentum rund um
       Börse und Rathaus ja auch entziffern kann. Die Reeperbahn, das war die
       Schwachstelle in diesem Wandel der Wahrnehmungen: Immer noch Sex, nichts
       als Sex, Davidwache, Drogenhandel und Immobilienspekulation: Überall war
       St. Pauli im Aufbruch, nur die Champs-Élysées des Stadtteils, die
       Reeperbahn, war immun gegen die kulturellen Änderungen.
       
       ## Dann kam Aids
       
       Aber dann kam Aids, seit 1983 war die Infektionskrankheit öffentlich
       bekannt und rasch mythisiert – und einige der Puffs und Sexhäuser mussten
       schwerste ökonomische Einbußen hinnehmen. Sex sells? Kaum mehr auf St.
       Pauli. Es wurde ruhiger, weniger anmacherisch in den Straßen rund um die
       Reeperbahn, sogar Domenica in der Herbertstraße hatte jetzt viel Zeit, zu
       einem öffentlich beliebten Gast in Talkshows zu werden.
       
       Sex, das war der Effekt von Aids eben auch, war sehr gefährlich geworden –
       und um dies zu klarzukriegen, musste man über Triebe und Treibstoffe reden.
       Aids jedenfalls hätte der Reeperbahnkultur fast das Genick gebrochen: Wozu
       sollte man ein solches Amüsierviertel brauchen, wenn nicht wenigstens dort
       die hormonell gesteuerte Notdurft erledigt werden konnte?
       
       So brauchte St. Pauli einen anderen Zweck, eine andere Daseinsberechtigung.
       Und der Mann, der dies in Werk setzte, war faktisch der Erfinder des
       Schmidt-Theaters am Spielbudenplatz: Corny Littmann, Professorensohn und
       einer der Könige des alternativen Kulturbusiness. Zusammen mit Lilo
       Wanders, also Ernie Reinhardt, eröffnete er am 8. August 1988 um 8 Minuten
       nach 8 Uhr, mitten in die Zeit des „Tagesschau“-Wahrnehmungsuniversums, das
       Schmidt-Theater – es war sozusagen das Schauspielhaus der bürgerlichen
       Moderne, das Lustspieltheater für die aufsteigenden alternativen Kader
       unserer grünen Szenen.
       
       ## Saftiges Nicht-Fips-Asmussen-Entertainment
       
       Das liegt nun erstaunliche 30 Jahre zurück. Littmann und Reinhardt haben
       sich entzweit, so ist zu hören, was aber nichts daran ändert, dass das
       Schmidt-Theater beherzte, gelegentlich vulgäre, auf jeden Fall
       schenkelklopfende, kaum subtile Kunst lieferte – Littmann betont nicht ohne
       Süffisanz, dass man als Unternehmen nie eine staatliche Mark erhalten habe,
       auch keinen Euro, um den Spielbetrieb am Laufen zu halten.
       
       Später kam noch, in knappster Nachbarschaft am Spielbudenplatz, das Tivoli
       Theater hinzu – beide Häuser sind alternative Revuetheater, die man nicht
       betritt, um hinterher die Welt aus den Angeln heben zu wollen, aber
       versorgt zu werden mit saftigem Nicht-Fips-Asmussen-Entertainment.
       
       Beide sind auf ein Publikum abonniert, das nicht zu den
       Topdurchblickerkreisen zählen muss, um sich den Schein von Eingeweihtheit
       einheimsen zu können. Schmidt: Das ist der Theater gewordene Triumph, wie
       man einen Stadtteil gentrifiziert, ohne ihn vollständig kulturell zu
       entkernen.
       
       ## Lichtermeere am Hafen
       
       St. Pauli ist durch das Schmidt-Theater zum attraktivsten Viertel in
       Hamburg geworden – ein Haus der Animationen, die Lichtermeere am Hafen zu
       genießen, die Metropole hochleben zu lassen. Wobei man daran erinnern muss,
       dass dem Unternehmen Littmann’scher Prägung keine lange Zukunft
       vorhergesagt wurde: zu schwul sei es, zu schräg, zu derb. Aber niemand
       konnte ahnen, dass genau dies das Counterprogramm zum oft anstrengenden
       Theater ist, das sonst so in Hamburg gegeben wird.
       
       Innerhalb der letzten 30 Jahre ist überhaupt viel passiert, dort, und in
       Hamburg sowieso. Zwischen Max-Brauer-Allee und Hafenkante gibt es keinen
       Fleck mehr, der Beschaulichkeit bietet, alles ist irgendwie alternativ,
       links, volxtümlich, quirlig. Immer noch ist das Drogengeschäft in der Hand
       von Gangs, die aber wechseln. Mal die einen, mal die anderen – es geht auf
       St. Pauli geradewegs zu wie in Mario Puzos „Der Pate“: Über illegale
       Geschäfte es zu Reputierlichkeit bringen, viele migrantische Familie haben
       dies geschafft – nicht mit besonderer Zimperlichkeit.
       
       So auch das unlängst um ein drittes, kleineres „Schmidtchen“ erweiterte
       Theater-Imperium: Man bespaßt das Kreuzfahrt-Unterhaltungsgeschäft und hält
       sich über Wasser, man bringt Stars hervor, und Olivia Jones ist nur einer
       der prominentesten unter vielen.
       
       ## Ein Ohnsorg-Theater für die alternative Szene
       
       St. Pauli wäre ohne die Gentrifizierung, die damals nicht so hieß, in
       Schutt und Moder untergegangen, als sei’s ein morscher Dogenpalast in
       Venedig – aber die Linken und Alternativen haben dieses Viertel erobert und
       zu ihrem gemacht. Mit Geschäften und mit Allianzen, die auch vor
       Grundstückshaien nicht Halt machten.
       
       Corny Littmann hat für seine Verdienste manchen Preis bekommen, darunter
       auch eine der wichtigsten Hamburger Auszeichnungen, den Max-Brauer-Preis.
       Den kriegt nun wirklich nur der hanseatische Adel, und komme er aus
       modernster Monarchie.
       
       Ohne das Schmidt hätte der grüne Bundestagskandidat des Jahres und
       zwischenzeitliche Präsident, klar, des FC St. Pauli, 1980 das nie
       geschafft: Gut, dass es dieses Ohnsorg-Theater für die alternative Szene
       gab – und gibt. Herzlichen Glückwunsch!
       
       8 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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