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       # taz.de -- Nachruf auf Christine Nöstlinger: List und Lust der Vernunft
       
       > Eigentlich wollte die gelernte Grafikerin gar nicht schreiben. Nöstlinger
       > tat es doch – zum Glück. Ihre klugen Gedanken werden fehlen.
       
   IMG Bild: Autorin durch Zufall: Ursprünglich illustrierte Nöstlinger das Manuskript eines Freundes
       
       Es begann alles an einem Wiener Küchentisch im Jahr 1966. Die studierte
       Gebrauchsgrafikerin [1][Christine Nöstlinger] (Jahrgang 1936) illustrierte
       das Kinderbuchmanuskript eines Freundes. Mit dem Wunsch Kinder zu haben –
       zwei Töchter – fand sie sich wie die meisten Frauen ihrer Generation in
       einem Hausfrauendasein wieder, das sie sich so nicht im Entferntesten
       ausgemalt hatte. Aber das Klima der Restauration begann zu bröckeln,
       Veränderung lag in der Luft. Auch in Wien, wo Spötter gerne behaupten, dass
       Geschichte hier immer etwas länger dauere. Christine Nöstlingers
       Aufbegehren bestand darin, ihr Handwerk, die Gebrauchsgrafik, von nun an
       selber zu gebrauchen.
       
       Ihr Erstling „Die feuerrote Friederike“ erschien 1970. Es folgten circa 150
       weitere Bücher, die in 30 Sprachen übersetzt wurden. Die kleine dicke
       Friederike, die ihrer Haarfarbe wegen – zwischen Karotte und Paradeiser –
       von den anderen Kindern verspottet wurde und ausgerechnet im vermeintlichen
       Handicap, ihren Haaren, die Zauberkraft zur Gegenwehr fand, fasziniert bis
       heute. Den Wiener Stadtteil Währing auf „g’söchter Hering“ zu reimen, ist
       kraftvolle Poesie, die engstirnige Lehrkörper im Schönsprechmodus jahrelang
       zum Gaudium ihrer SchülerInnen auf die Palme trieb.
       
       Nöstlinger hat die Kraft und den widerborstigen Charme des Wiener
       Vorstadtidioms – jenseits von Kabarett und Karikatur – literaturfähig
       gemacht. Erschienen Bücher in deutschen Verlagen, kamen diese oft nicht
       umhin, in einem feinsäuberlichen Glossar anzumerken, warum Wiener Kinder
       unbedingt in den Prater wollen und dass Topfengolatschen – dem merkwürdigen
       Klang des Wortes zum Trotz – etwas Essbares bezeichnen.
       
       Waren andere Kinderbücher für sie oft „Pädagogikpillen, gewickelt in buntes
       Geschichterlpapier“, lernten mittlerweile Generationen aus Nöstlingers
       Büchern mit Lust die Wirklichkeit zu erobern, auch wenn es um sie meist
       nicht gut stand. Sucht man AutorInnen, die sich so standhaft wie sie
       weigerten, Kinder mit vorfabriziertem Schmus abzuspeisen, muss man in
       deutscher Sprache mindestens bis zu Erich Kästner zurückgehen.
       
       ## Kluge, gewitzte Heldinnen jenseits der Pferdekoppel
       
       Nöstlinger betrat bis dahin unbekanntes Terrain. „Maikäfer flieg“ (1973)
       erzählt von Krieg und Nationalsozialismus aus der Perspektive ihrer eigenen
       Kindheit zu einer Zeit, in der die Erwachsenen noch beharrlich schwiegen.
       „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ (1972) war wohl die vergnüglichste
       Entlarvung falscher Autoritäten, die je geschrieben wurde. „Gretchen
       Sackmeier“ (1981) half die Zumutungen überstehen, die die Umwelt für
       Pubertierende bereithält.
       
       Immer wieder hat sie kluge, gewitzte Heldinnen entworfen – jenseits von
       Pferdekoppel oder Schminktisch – und damit den chronischen Mangel an
       weiblichen Identifikationsfiguren in der Kinderliteratur spürbar gemildert.
       In „Der Denker greift ein“ (1981) löst ein hochbegabter Außenseiter vom
       Krankenbett aus einen klassischen Kriminalfall. Von Begabtenförderung hielt
       sie indessen nicht viel. Wer mehr weiß, kann anderen helfen oder auf eigene
       Faust Entdeckungen machen.
       
       „Blitzgneißer“, wie man sie in Wien nennt, kommen bei Nöstlinger dennoch
       auf ihre Kosten. Es gibt neben der straight erzählten Geschichte immer den
       Genuss an der zweiten Ebene, die auch Erwachsene zuverlässig in den Bann
       zieht. Wer nach 1970 Kind war oder seit dieser Zeit welche hat und
       Nöstlinger nicht kennt, ist einfach eine „arme Wurscht“.
       
       Als in der „großen“ Literatur während der 1970er Jahre der Widerspruch von
       Engagement und Autonomie ausgetragen wurde, hätten die überwiegend
       männlichen Protagonisten der Debatte bei Nöstlinger durchaus etwas über die
       Synthese der Begriffe lernen können. Das antifaschistische Elternhaus, ihr
       traditionell-sozialdemokratisches Gerechtigkeitsempfinden und ihr
       illusionsloser Humanismus formten nicht nur inhaltlichen Anspruch, sie
       bildeten eine Produktionsethik, die aus jeder Zeile sprach. Die
       Antiautoritäre wurde zur Autorität ihres Landes. [2][2015 sagte sie zum
       Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen] zuletzt das,
       was es über Österreich und die Geschichte des Nationalsozialismus zu sagen
       gibt.
       
       [3][Sie wird fehlen]. Die Jungkanzler, Populisten und anderen Gurkenkönige
       unserer Tage haben die Entlarvung durch den genüsslichen Vernunftgebrauch
       ihrer HeldInnen bitter nötig.
       
       14 Jul 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kinderbuchautorin-Noestlinger-wird-80/!5344842
   DIR [2] http://orf.at/stories/2277069/2277077/
   DIR [3] /Oesterreichische-Kinderbuchautorin/!5522167
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Mattheiß
       
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