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       # taz.de -- Qualität des WM-Fußballs: Fantastische Unwägbarkeiten
       
       > Kann der Fußball, der während der WM gespielt wurde, mit dem in der
       > Champions League mithalten? Ja. Und schöner ist er auch noch.
       
   IMG Bild: Und die Zuschauer erst: So nah dran! Ein Vogel auf dem Finalrasen in Moskau
       
       Die, die keine Ahnung haben, werden sich nun beschweren. Gegen Real, gegen
       Liverpool hätte keiner dieser Mannschaften auch nur den Hauch einer Chance
       gehabt! [1][In der Champions League] wird der viel bessere Fußball
       gespielt! Und sogar in der Bundesliga bekommt man bessere Spiele zu sehen!
       Selbst Kaiserslautern hätte den Titel gewinnen können! Überhaupt:
       Vereinsfußball! Viel besser, doller, krassomater! Da sieht man auch, was
       passiert! Das ist das große Ding.
       
       Das ist richtig, aber falsch. Es ist ja gerade das Schlimme am
       Vereinsfußball höherklassiger Ausprägung: Man weiß genau, was passieren
       soll. Und dann muss schlicht nur überprüft werden, ob die Erwartungen auch
       erfüllt werden. Der Zuschauer als Bürokrat. Jedes Spiel ist eine Seite in
       einem Ausmalbuch, die grundlegenden Linien sind vorgegeben, und wehe, eine
       Mannschaft malt über den Rand.
       
       Eine Nationalmannschaft aber ist ein leeres Blatt Papier. Es gibt nur
       unzureichende Erklärungen vorab, warum wer wie spielt, es ist nichts
       vorgestanzt. Der Zuschauer muss sich die Gründe für das Spiel – und beim
       Spiel selbst obendrein! – denken. Er muss das ganze Turnier denken, er
       denkt sich die Mannschaft mehr, als sie ist.
       
       Die große Herausforderung [2][einer WM] ist die Dynamik. Es spielen hier
       Mannschaften unter erschwerten Bedingungen: Das sind Teams, die man nicht
       zusammendenken kann, sondern irgendwie kombinieren muss. Der Zufall führt
       sie zusammen. Und dann gilt es. Den Sinn dahinter baut jener, der es sieht.
       Ob einer Mannschaft eine WM gelingt oder nicht, hängt am Ende von jenen
       Details ab, die vorher keiner auf dem Schirm hatte. Nationalmannschaft ist
       Kontrollverlust.
       
       Das widerspricht dem Prinzip der Vereinsmannschaften, wo alles möglichst
       planbar sein soll. Der wichtigste Trainer der Gegenwart ist der neurotisch
       kleinteilige, kontrollettige Pep Guardiola; auf ihn geht auch der Risiko
       vermeidende Ansatz des defensiven Ballbesitzfußballs zurück. Der ist
       übrigens bei dieser WM grandios gescheitert: Spanien und Deutschland wurde
       zum Verhängnis, dass sie als Maschine gedacht wurden, wo sie Körper hätten
       sein sollen.
       
       ## Gegen Guardiola
       
       Denn dieses Prinzip der Absicherung funktioniert, wenn man Zeit hat; bei
       einer WM aber hat man keine Zeit. Dieses Prinzip funktioniert, wenn man
       Geld hat, um sich seinen Wunschzettel zusammenzuklauben.
       
       Wie prosaisch! Nationalmannschaften hingegen sind ein Ort der
       Unwägbarkeiten. Wer hätte gedacht, dass sich Schweden derart
       zusammenfindet, trotz [3][eines Shitstorms gegen einen ihrer Mitspieler]?
       Wer hätte gedacht, dass Frankreich [4][sich so zu disziplinieren versteht]?
       Wer hätte gedacht, dass die russische Mannschaft sich [5][so sehr an sich
       selbst begeistern kann]? All das sind Fragen, die an die Welt gestellt
       werden, unvorhersehbarerweise.
       
       Und genau das macht eine Weltmeisterschaft so unzynisch. Denn Guardiola und
       seine Jünger rechnen damit, dass ihnen ihre Berechnungen recht geben; man
       muss eine Nische finden, oder sich genau die Spieler zusammenklauben, die
       in ihr System passen. Eine WM hingegen ist der Ritt auf der Rasierklinge,
       eine Improvisationsleistung: die Mannschaften sind mehr als ihre
       Einzelteile.
       
       Das Publikum nimmt das auf, was ihm angeboten wird, und fügt es dann selbst
       zusammen; es braucht den emanzipierten Zuschauer, der sich eine Idee
       gemacht hat, oder drei, oder zwölf. Es braucht einen Zuschauer, der denkt,
       der Vorstellungsvermögen hat. Der in der Lage ist, einen Gedanken zu
       fassen, ohne dass er ihm bereits vorgegeben wurde. Romantisch zu glotzen
       reicht dann nicht.
       
       16 Jul 2018
       
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