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       # taz.de -- Reiseschriftstellerin Alma Karlin: Lesbe, Spionin und merkwürdige Frau
       
       > Alma Karlin bereiste in den 1920ern trotz schwerer Behinderung fünf
       > Kontinente. Ihre Bücher waren Bestseller. Jetzt wird sie wiederentdeckt.
       
   IMG Bild: „Sie war eine tiefernste Person, aber ihre Texte sind voller Humor und Selbstironie“, sagt Biografin Jernaja Jerzenick
       
       Vor dem Deutschen Haus, in der Nähe des Bahnhofs im slowenischen Celje,
       läuft eine kleine zierliche Frau mit Spazierstock, Koffer, Reisemantel, Hut
       und resolutem Blick in Richtung Innenstadt. Die kleine Frau ist aus Bronze,
       steht hier gerade mal seit 2010, heißt Alma Karlin und war zwischen den
       beiden Weltkriegen die meistgelesene deutschsprachige
       Reiseschriftstellerin. Ihre Bücher „Einsame Weltreise“ und „Im Banne der
       Südsee“ sind 1929 und 1930 im Mindener Wilhelm-Köhler-Verlag erschienen und
       verkauften sich mehr als 50.000 Mal.
       
       Als die Schriftstellerin 1889 geboren wird, gehört das kleine Dorf Cilli,
       wie Celje damals heißt, zu Österreich-Ungarn und die Familie zum Deutsch
       sprechenden Teil der Bevölkerung.
       
       Das Kind eines 60-jährigen Offiziers und einer 45-jährigen Lehrerin kommt
       halbseitig gelähmt, mit schielenden Augen, einem riesigen Kopf und der
       Diagnose auf die Welt, sie werde ihr Leben lang geistig behindert bleiben
       und nur mit viel Glück ihr erstes Jahr überleben.
       
       Auch wenn es dann doch ganz anders kam, beschreibt Alma Karlin den Beginn
       ihres Lebens so: „Ich war ein unliebenswürdiges Kind … nach meinem
       taktlosen Erscheinen in einer Welt, die sich ohne mich angeblich wohler
       befunden hätte …, weil ich solch ein ‚Zusammenkratzerl‘ alter Eltern war.“
       
       Das Zusammenkratzerl wird Bestsellerautorin. Nach ihrem Tod aber gerät
       Karlin in komplette Vergessenheit, ihre Bücher sind in Deutschland heute
       nur noch antiquarisch zu haben. In Slowenien hingegen ist sie seit der
       Unabhängigkeit des Landes 1991 ein wiederentdeckter Superstar: In der
       Hauptstadt Ljubljana würdigt man in Ausstellungen ihr Leben und ihre
       Leistungen, ihre Bücher werden aus dem Deutschen übersetzt, ihre
       unveröffentlichten Werke nach und nach verlegt und ihr riesiger Nachlass
       wird in der Ljubljaner und in der Berliner Nationalbibliothek
       aufgearbeitet.
       
       Der Stoff, den das Leben dieser Frau erzählt, ihre Ausdauer und die
       Überzeugung, mit der sie sich gegen widrigste Umstände durchgesetzt hat,
       ist so beeindruckend, dass er für mindestens einen Hollywood-Film reichen
       würde.
       
       In Deutschland hat der AvivA Verlag jetzt immerhin Karlins 1931
       entstandenen, bisher aber unveröffentlichten ersten Teil ihrer
       Autobiografie „Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden“ publiziert.
       Dort schildert sie unter anderem, wie sie sich von der Mutter im Stich
       gelassen, unverstanden und unerwünscht fühlt. „Ihr Traum war eine vornehme
       Heirat; mein Traum war Wissen und Freiheit. Sie litt an Buckelkrämpfen, ich
       an Starrsinn. Ich verstand ihr Oberflächengenießen, sie mein Fischen in den
       Tiefen nicht. Sie starb, ohne mich gekannt zu haben …“
       
       ## Sie urteilt hart
       
       Während der Vater sie Alma getauft hat, weil sie mehr Seele als Leib ist
       und sie so liebt wie sie ist, versucht die Mutter, Almas Körper mit Gewalt
       zurechtzubiegen.
       
       Nach dem frühen Tod des Vaters, Karlin ist da acht Jahre alt, wird die
       Mutter für sie nicht zur wichtigsten Vertrauensperson, sondern zur Folter.
       „Meine Kindheit war eine geschlossene Kette von Augenblende,
       Ohrenlascherln, Salzbädern, Thymianreibungen, lästigem Nachmittagsschlaf,
       Ärztebesuchen, aufgenötigtem Schabefleisch und Berufungen auf den
       sagenhaften Herrn ‚Es schickt sich nicht!‘“
       
       So schonungslos wie Alma Karlin über ihre Mutter urteilt, urteilt sie auch
       über sich und andere. „Die Erwachsenen sahen in mir überhaupt nichts als
       ein schwächliches, wortkarges, unzärtliches Kind, dem sie ein seelisches
       Eigenleben kaum zutrauten. Ich erinnere mich deutlich, einmal gefragt
       worden zu sein, ob ich im Grunde wirklich manchmal etwas dachte, und
       obschon ich sehr bescheiden mit ‚manchmal schon!‘ antwortete, lachte ich
       innerlich tagelang bei dem Gedanken, was die Fragerin gesagt oder getan
       hätte, wenn sie einen Blick in meine Innenwelt zu werfen befähigt gewesen
       wäre …“
       
       Karlins Stil gibt einem beim Lesen nicht das Gefühl, Verstaubtes aus dem
       letzten Jahrhundert, sondern hochaktuelle Konflikte so erzählt zu bekommen,
       wie man sie eben heute erzählt: mit einer gehörigen Portion Selbstironie
       und Witz. „Wenn man Fotos von Alma Karlin kennt“, sagt ihre slowenische
       Biografin Jerneja Jezernik, „weiß man, dass sie nie gelächelt hat. Sie war
       eine tiefernste Person. Aber ihre Texte sind voller Humor und Selbstironie.
       Sie muss sehr viel Arbeit an sich geleistet haben.“
       
       Zu dieser Einschätzung kann man auch kommen, wenn man kein Foto kennt. Im
       Unterschied zu heutigen Generationsromanen oder Ich-Erzählungen ist das,
       was und wie Alma Karlin über ihr Leben erzählt, tatsächlich erzählenswert.
       Ihre körperlichen Unzulänglichkeiten und ihre schwierige Kindheit sind nur
       der erste Teil ihres Lebens, auf den sie naturgemäß keinen so großen
       Einfluss hatte.
       
       ## Sie galt als suspekt
       
       Im Jahr 1908 bereits verlässt sie das Elternhaus und bricht nach London
       auf. Mit Risikobereitschaft, Lernbegierde und Entdeckungsfreude macht sie
       wett, was ihr Körper ihr verweigert und ihre Mutter nicht zu geben bereit
       ist.
       
       In England schlägt sie sich als Deutschlehrerin und Übersetzerin durch,
       legt in Norwegisch, Schwedisch, Dänisch, Englisch, Französisch, Spanisch,
       Italienisch und Russisch Prüfungen ab und lernt Sanskrit, Chinesisch und
       Japanisch. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht sie nach Norwegen
       und Schweden, bevor sie für kurze Zeit nach Celje zurückkehrt und dann 1919
       schließlich zu ihrer Weltreise aufbricht, die sie in den folgenden acht
       Jahren durch fünf Kontinente führt.
       
       Zwischen 1945 und 1991 war Karlin kein Thema in ihrer Heimat, obwohl sie
       von der schwedischen Autorin Selma Lagerlöf 1933 für den
       Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde.
       
       Im sozialistischen Jugoslawien galt die Weltgereiste als suspekt, weil sie
       Deutsch sprach. Dabei war sie in Celje die einzige Deutsche, die sich offen
       gegen die Nazis positioniert hatte.
       
       Aus Protest schreibt Karlin nach der Machtübernahme der Nazis nicht mehr
       für deutsche Zeitungen, sie versteckt Gegner des deutschen Regimes bei
       sich, wie den Journalisten Hans Joachim Bonsack, und schließt sich den
       Partisanen an. Sie stellt sich auch offen gegen den Kommunismus, sodass sie
       1950 isoliert, bitterarm und vergessen in einem slowenischen Bergdorf an
       Brustkrebs stirbt.
       
       Es dauerte bis zur Unabhängigkeit Sloweniens, dass sie und ihre Bücher
       wiederentdeckt und übersetzt wurden. Eine der Wiederentdeckerinnen ist ihre
       Biografin Jerneja Jezernik, die 1970 ebenfalls in Celje geboren wurde.
       „Neben meiner Schule hing damals eine kleine Gedenktafel für Alma Karlin“,
       erzählt die Germanistin. „Als ich nachfragte, wer das sei, bekam ich zur
       Antwort: Eine Deutsche. Eine Lesbe. Eine Spionin. Eine merkwürdige Frau.“
       
       ## „Sie galt als Freiwild“
       
       Erst Jahrzehnte später, als Jezernik im Jahr 2006 als Slowenischlehrerin
       nach Berlin kam, traf sie wieder auf Karlin: Sie half der Berliner
       Staatsbibliothek dabei, den handschriftlichen Nachlassbestand Karlins zu
       sichten und zu bearbeiten. 2009 veröffentlichte Jezernik dann in Sloweniens
       größtem Verlagshaus die erste Biografie über die Autorin, die zum
       Publikumserfolg wurde.
       
       Alma Karlins Nachlass sei der mittlerweile am meisten nachgefragte Bestand
       der Ljubljaner Nationalbibliothek, sagt Jezernik. „Weil sie eine so
       vielschichtige Autorin ist. Sie hat ja nicht nur Reiseliteratur
       geschrieben, sondern anthropologische und ethnologische Forschungen
       betrieben, Gedichte verfasst und theosophische Essays.“
       
       Einige von Karlins Beschreibungen anderer Kulturen, wie beispielsweise der
       peruanischen, arbeiteten allerdings mit an Rassismus grenzenden
       Kategorisierungen, erzählt Jezernik. Dies sei jedoch dem Umstand
       geschuldet, dass Karlin in Peru mehrere Vergewaltigungsversuche und einen
       Raubüberfall erlitten habe. „Überlegen Sie mal, wie man heute noch als
       alleinreisende Frau betrachtet wird. Sie galt damals als Freiwild.“
       
       Jezernik hat sich das Verhältnis Alma Karlins zu den Männern intensiver
       angeguckt und auch darüber eine Monografie verfasst. „Sie hat sich in Peru,
       in Japan und anderswo verliebt. Aber sie ist nie bei den Männern geblieben.
       Sie wollte eine eigenständige, freie Frau sein und keine Familie gründen,
       immer weiterziehen. Ich hab in ihrem Nachlass auch ein tolles Gedicht
       gefunden, das den Titel ‚Lied an die Mannszweibeine‘ trägt, eine Zeile
       daraus ist: ‚Am besten lebt die Frau allein, sie braucht dann keine Sklavin
       sein.‘“
       
       Gerne würde man die Biografie Jezerniks, den zweiten Teil von Karlins
       Autobiografie „Haus der Menschen“ oder auch die Erzählung Karlins über ihre
       Zeit als Partisanin lesen.
       
       2022 ist Slowenien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Vielleicht klappt
       es bis dahin.
       
       29 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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