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       # taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Innehalten ist nicht mehr
       
       > Man muss jetzt auch im Urlaub kreativ sein. Das ist der konsequente
       > nächste Schritt einer durchgeknallten Mittelschicht in Richtung Wahnsinn.
       
   IMG Bild: Und wo ist sein Projekt?
       
       Nur 40 Meter vom Pazifik entfernt chillte ich in einem kalifornischen
       Jacuzzi. Super Frau neben mir, unfassbar blauer Himmel über mir, ein
       winziger Hauch Zitrone in der Luft. On top of that „Take it Easy“ in der
       Eagles-Version. Ich muss zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich immer
       davon ausging, dass man sich Urlaub verdient hat und Entspannung auch mal
       sein muss. Gerade im Spätkapitalismus, um die gnadenlose
       Turbo-Selbstausbeutung dann wieder zur vollsten Zufriedenheit des Systems
       und seiner Nutznießer vorantreiben zu können.
       
       Doch plötzlich las ich in der New York Times, das jetzt alles anders ist.
       Man liegt gar nicht mehr rum. Man muss jetzt auch im Urlaub kreativ sein
       und was arbeiten!
       
       Jetzt bin ich als Medienmensch sofort skeptisch, was „neue Trends“ angeht.
       Jeder Praktikant lernt als Erstes, dass mancher Redakteur sofort
       hyperventiliert, wenn zwei Hansel etwas tun, das er selbst mal wieder nicht
       mitgekriegt hat. Einer reicht aus handwerklichem Ethos nicht, aber bei zwei
       Fällen zwingt er einen armen Reporter loszuhecheln, um einen neuen
       „gesellschaftlichen“ Trend auf den Titel bringen zu können. Ich hatte diese
       Krankheit früher auch.
       
       Aber erstens sprechen wir hier von der New York Times und zweitens werden
       in dem Report eine ganze Reihe von Leuten zitiert. Es handelt sich
       eindeutig um eine neue Avantgarde, die vorangeht und ihre maximal zwei
       Urlaubswochen nutzt, um schnell noch ein fundamentales Buch zu schreiben,
       Chefkoch in molekularer Küche zu werden oder ein einzigartiges Kanu zu
       schnitzen, inspiriert von Artefakten, die sie im New Yorker MoMA gesehen
       haben. Als sie noch pupsnormal Urlaub machten.
       
       ## Home Depot statt Grand Canyon
       
       Meine Lieblingspioniere sind ein Anwalt aus Des Moines, Iowa, und sein
       Ehemann, ein Komponist. Das Paar ist jahrelang im Urlaub um die Welt
       geflogen, um die üblichen Ziele der globalisierten Mittelschicht
       abzureisen. In diesem Sommer bleiben sie zu Hause, um ein neues Gehege für
       ihren geliebten Waran Vera zu bauen. Statt zum Grand Canyon, sagt der
       Anwalt, fahre man zum Home Depot, also zum Praktiker-Markt, um dort
       umweltfreundlichen Harzkleber zu kaufen.
       
       Da den Pinsel reinzutauchen und dann hin und her zu schwenken, das sei
       meditativ und auf eine ungleich stärkere Art verbindend, als durch einen
       europäischen Flughafen zu laufen. Es ist nicht nur ein Liebesdienst an dem
       Waran, sondern auch am Partner und an einem selbst, weil man durch das
       gemeinsame Projekt in die Ehe als auch in die Weiterbildung der eigenen
       Persönlichkeit investiert.
       
       Auch eine vormals poplige Hausrenovierung ist nun der Abenteuerurlaub der
       Avantgardisten.
       
       Bisher mussten sich Paare in besinnlichen Merlot-Stunden immer die
       Geschichte ihrer Hochzeitsreise erzählen. „Jetzt können wir uns erzählen,
       wie es in dem Sommer war, als wir das Haus renoviert haben.“ Statt der
       Urlaubsfotos von der Golden-Gate-Brücke, dem Eiffelturm und dem
       Peter-Lenk-Kunstwerk in Berlin-Kreuzberg zeigen sie ihren Freunden jetzt
       Fotos von ihren renovierten Zimmern. Von ihrem Waran-Habitat mit Pool. Und
       ihrem selbstgeschnitzten Kanu.
       
       Innehalten ist nicht mehr. „Man wächst nicht in seiner Komfortzone“, lautet
       das neue Motto.
       
       „Die freiwillige Transformation des letzten Schutzraumes Sommerurlaub in
       ein kreatives Arbeitsprojekt, um auch da noch Wachstum auf allen Ebenen zu
       erzeugen, ist der konsequente nächste Schritt einer durchgeknallten
       Mittelschicht Richtung Wahnsinn“, sagte ich zur Superfrau, die neben mir im
       hot tub chillte. Und noch während sie nickte, dachte ich: Was könnte
       nächstes Jahr unser Projekt sein?
       
       11 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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