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       # taz.de -- Seehofer erschwert Flüchtlingshilfe: Kreuzzug gegen das Kirchenasyl
       
       > Flüchtlinge müssen jetzt dreimal länger in Kirchen ausharren, bevor ein
       > Asylverfahren in Deutschland erkämpft werden kann: bis zu 18 Monate.
       
   IMG Bild: Hort des christlichen Handelns: Kirche im christlichen Bayern
       
       Freiburg taz | Noch nie gab es so viele Kirchenasylfälle in Deutschland wie
       derzeit. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will deshalb
       gegensteuern: Seit Anfang August gelten neue Regeln, die die Belastung der
       beteiligten Kirchengemeinden oft verdreifachen – und somit wohl zu einem
       Rückgang des Kirchenasyls führen werden.
       
       So muss ein Schutzsuchender künftig 18 statt 6 Monate in kirchlichen Räumen
       ausharren, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) das
       Bestehen eines Härtefalls verneint. Die Kirchenasylbewegung hält das für
       „rechtswidrig“: „Wir gehen davon aus, dass dies auch einige
       Verwaltungsgerichte so sehen“, sagte Pastorin Dietlind Jochims, Vorsitzende
       der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) „Asyl in der Kirche“.
       
       Beim Kirchenasyl wird ein Ausländer in kirchlichen Räumen vor einer
       bevorstehenden Abschiebung geschützt, wenn eine „nicht hinnehmbare Härte“
       droht. Nach eigenem Selbstverständnis stellen sich die Kirchengemeinden
       dabei nicht über das Recht, sondern fordern den Staat nur auf, noch einmal
       zu prüfen, ob das Recht wirklich korrekt angewandt wurde.
       
       Früher gab es nie mehr als fünfzig Fälle pro Jahr. Doch seit 2014 steigt
       ihre Zahl stark an (siehe Tabelle). Im Vorjahr gab es laut BAG bundesweit
       1.189 Kirchenasyl-fälle, bei denen 1.799 Personen geschützt wurden,
       darunter 371 Kinder und Jugendliche. Die Polizei dürfte die Geschützten
       zwar aus dem Kirchenasyl holen, tut es aber nicht – aus Achtung vor der
       Religion.
       
       ## Jahrelanger Streit
       
       Ursprünglich ging es vor allem darum, Abschiebungen ins Herkunftsland zu
       verhindern. Hierzu musste intensiv mit den Behörden verhandelt werden. In
       Extremfällen konnte ein Kirchenasyl Jahre dauern. Inzwischen betreffen 90
       Prozent der Kirchenasyle sogenannte Dublin-Fälle. Hier geht es darum, die
       Überstellung in einen anderen EU-Staat zu verhindern. Nach den
       Dublin-Regelungen ist meist der EU-Staat für das Asylverfahren zuständig,
       den der Asylantragsteller zuerst betreten hat.
       
       Bei einem Dublin-Fall kann die Kirchengemeinde auf Zeit setzen: Wenn eine
       Überstellung an den zuständigen Staat nicht binnen einer
       „Überstellungsfrist“ von sechs Monaten gelingt, dann ist automatisch
       Deutschland für das Asylverfahren zuständig.
       
       Der deutliche Anstieg der Dublin-Kirchenasyle führte schon 2014 zu massiver
       staatlicher Kritik. Manfred Schmidt, der damalige Bamf-Präsident, warnte,
       hier werde schlicht das Gesetz „umgangen“. Oft gehe es nicht um den
       Einzelfall, sondern um eine generelle Infragestellung der
       Dublin-Verordnung.
       
       Thomas de Maizière, damaliger CDU-Innenminister, wurde noch deutlicher:
       „Als Verfassungsminister lehne ich das Kirchenasyl prinzipiell und
       fundamental ab.“ Das Bamf drohte damals erstmals damit, Ausländer im
       Kirchenasyl als „flüchtig“ einzustufen; damit würde sich die
       Überstellungsfrist von 6 auf 18 Monate verdreifachen.
       
       Die Kirchenasylbewegung wies die Kritik zurück. Wenn die Zahl der
       Flüchtlinge stark ansteige, sei es normal, dass auch die Zahl der
       Kirchenasyle zunehme. Die Kirchengemeinden überlegten stets genau, ob sie
       Kirchenasyl gewähren; neun von zehn Anfragen würden abgelehnt.
       
       Der Konflikt wurde alsbald entschärft: Im Februar 2015 einigten sich Bamf
       und Kirchen auf eine neue Form der Zusammenarbeit bei Dublin-Fällen. Das
       Bamf sagte zu, die Akten von Kirchenasylschützlingen noch einmal zu prüfen.
       Die Kirchen wurden aufgefordert, „Dossiers“ zur Begründung einzureichen.
       Wenn das Bamf eine „unzumutbare Härte im Einzelfall“ anerkennt, macht es
       von seinem „Selbsteintrittsrecht“ Gebrauch. Dann bekommt der
       Asylantragsteller sofort ein Asylverfahren in Deutschland.
       
       ## Eine positive Bilanz
       
       Am Ende einer halbjährigen Projektphase zogen beide Seiten eine positive
       Bilanz. Das Bamf hatte bei fast allen vorgelegten Dossiers Härtefälle
       akzeptiert. Die Verlängerung der Überstellungsfrist war vorerst vom Tisch.
       
       Doch schon Mitte 2016 verschärften sich die Reibereien wieder. Im Bamf war
       nun eine andere Abteilung zuständig. Immer weniger Härtefälle wurden
       anerkannt. Die Kirchen ärgerten sich über schlecht begründete,
       schablonenhafte Ablehnungen. Die Folgen waren zunächst aber gering: Die
       Betroffenen blieben einfach weiter im Kirchenasyl, sie mussten nur ein paar
       zusätzliche Wochen warten – bis die Sechsmonatsfrist überschritten war.
       
       Allerdings nahm nun auch die staatliche Kritik wieder zu. Viele
       Innenpolitiker fragten, was die Härtefallprüfung des Bamf eigentlich solle,
       wenn am Ende so oder so ein Asylverfahren in Deutschland folge. Vorgeworfen
       wurde den Kirchengemeinden auch, dass sie 2017 in mehr als der Hälfte der
       Fälle überhaupt kein Begründungsdossier einreichten. Das
       Bundesinnenministerium monierte, dass sogar Überstellungen „in systemisch
       unbedenkliche Mitgliedsstaaten wie Schweden“ per Kirchenasyl verhindert
       würden.
       
       Tatsächlich betrafen im Jahr 2017 immerhin 56 Kirchenasylfälle eine
       Überstellung nach Schweden, in 75 Fällen war Norwegen das Zielland. „Wenn
       eine Überstellung in skandinavische Länder verhindert wird, geht es häufig
       um Afghanen, die dort bereits als Asylbewerber abgelehnt wurden und
       höchstwahrscheinlich nach Afghanistan abgeschoben würden“, sagt
       BAG-Vorsitzende Dietlind Jochims. „Wenn dann noch gesundheitliche oder
       andere Probleme hinzukommen, gehen wir von einem besonderen Härtefall aus.“
       
       ## Traumatisierung durch die Flucht
       
       Bei knapp der Hälfte aller Dublin-Kirchenasyle geht es um Verhältnisse in
       den zuständigen EU-Staaten: um drohende Obdachlosigkeit in Italien, Gewalt
       von Sicherheitskräften in Bulgarien oder eben die Gefahr der Abschiebung
       ins Herkunftsland. Eine weitere knappe Hälfte der Fälle bezieht sich auf
       medizinische Probleme, vor allem psychischer Art. Oft sind die Geschützten
       traumatisiert, etwa durch Erlebnisse auf der Flucht. Aber die
       Konstellationen sind vielfältig, oft liegen mehrere Gründe vor. „Jeder Fall
       ist anders“, sagt Dietlind Jochims.
       
       Doch nun gelten tatsächlich neue Regeln. Sie wurden schon im Juni von der
       Innenministerkonferenz beschlossen. Am 3. Juli hat Horst Seehofer sie in
       einem Erlass festgelegt. Und seit 1. August gelten sie laut Bamf für alle
       neu gemeldeten Kirchenasyle.
       
       Danach betrachten die Behörden einen Schutzsuchenden nun als „flüchtig“,
       wenn die Kirchengemeinde das Dossier zur Begründung nicht binnen vier
       Wochen nach Beginn des Kirchenasyls einreicht – damit verdreifacht sich die
       Überstellungsfrist auf 18 Monate. Das selbe gilt, wenn das Kirchenasyl
       nicht innerhalb von drei Tagen beendet wird, nachdem das Bamf einen
       Härtefall abgelehnt hat.
       
       ## Die Last der Kosten
       
       Das war 2017 immerhin bei 80 Prozent der Dossiers der Fall. Somit dürfte in
       der Praxis vor allem die zweite Neuregelung folgenschwer sein. Zwar können
       Flüchtlinge und Kirchengemeinden weiterhin ein Asylverfahren in Deutschland
       erzwingen, auch Seehofer akzeptiert grundsätzlich die
       „christlich-humanistische Tradition des Kirchenasyls“. Quasi als Sanktion
       müssen sie sich aber auf einen viel längeren Zeitraum einstellen.
       
       Und das bedeutet für die Gemeinden eine enorme Belastung. Beim Kirchenasyl
       stellen die Kirchen den Wohnraum zur Verfügung. Er kann nicht irgendwo
       angemietet werden, sondern muss zu einer kirchlichen Einrichtung gehören,
       etwa zum Pfarrhaus oder zum Gemeindezentrum.
       
       Die Kirchen müssen zudem die Versorgung der Geschützten übernehmen, denn
       diese bekommen während des Kirchenasyls kein Geld vom Staat. Und im
       Krankheitsfall müssen die Gemeinden auch den Arzt bezahlen, denn
       Schutzsuchende im Kirchenasyl sind nicht krankenversichert. „Ob man dies
       für ein halbes oder für anderthalb Jahre zu leisten hat, macht einen großen
       Unterschied“, sagte Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rats der
       Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Zahl der Kirchenasyle dürfte
       in Zukunft also spürbar sinken. Dann hätte Minister Seehofer sein Ziel
       erreicht.
       
       Vielleicht hat Horst Seehofer die Rechnung aber auch ohne die Gerichte
       gemacht. Denn sicher wird es Klagen gegen die Fristverlängerung auf 18
       Monate geben. Und dann wird sich zeigen, dass man Personen im Kirchenasyl
       nicht einfach so für „flüchtig“ erklären kann. Sie sind ja gerade nicht
       untergetaucht – vielmehr ist ihr Aufenthalt den Behörden stets bekannt.
       
       12 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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