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       # taz.de -- Kolumne Schlagloch: Europa mauert
       
       > Viele schreien auf, wenn Unsägliches gesagt wird. Aber Solidarität ist
       > geteilte Verantwortung und nicht nur gemeinsamer Aufschrei in der
       > Komfortzone.
       
   IMG Bild: Untergebracht in einem verlassenen Hotel: Geflüchtete im bosnischen Bihać
       
       Es ist derzeit etwas faul am deutschen Diskurs. Es gärt. Manche scheinen
       sich an diesem Gärungsprozess zu berauschen. Den Gipfel der Sinnlosigkeit
       hat die deutsche Debatte beim Thema Seenotrettung erreicht. Ein Land, so
       reich, so zivilisiert, lässt seine Klügsten darüber debattieren, [1][ob
       Menschenleben zu retten sind]? Dabei werden Gräben aufgerissen in diesem
       mächtigen Deutschland, auf das so viele warten.
       
       Menschen an der bosnischen Grenze zu Europa zum Beispiel. Während in
       Deutschland Wertedebatten wegen einer [2][Pro-und-contra-Aufmachung in der
       Zeit] geführt werden, [3][sammeln sich Geflüchtete an der Außengrenze
       Europas]. Bihać, die Stadt, von der manche sagen, dass sie nur knapp dem
       Schicksal von Srebrenica entronnen ist, erlebt seine größte humanitäre
       Krise seit den Neunzigern. Eine slowenische Zeitung schreibt vom neuen
       Idomeni.
       
       Die Bewohner von Bihać wollen dies verhindern. Sie sprechen respektvoll von
       den Menschen in Not, sie wollen aber auch Hilfe von der Weltgemeinschaft.
       Wenige hundert Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt gibt es kein
       Essen. Keine Schuhe. Es gibt kaum Toiletten.
       
       Immer mehr Menschen kommen zu anderen, die selbst immer weniger haben. Zu
       Menschen, die keinen Staat haben, von dem sie etwas zu verlangen gewohnt
       sind. Sie fangen weite Teile der Not selbst auf.
       
       ## Mund auf und Augen zu
       
       Die Menschen in Bihać stellen enttäuscht fest: Keiner ist für sie da. Die
       Menschenrechtsorganisationen nicht, die EU nicht und auch nicht die UNO.
       Dieses europäische Schicksal spielt im deutschen Diskurs nicht annähernd
       dieselbe Rolle wie beispielsweise die misslungene Aufmachung der Zeit.
       
       Es ist, als fiele es vielen leichter, sich der eigenen Position in
       Binnendiskussionen zu vergewissern. Aufgeladene Phrasen darüber, wie
       absolut man zu den eigenen Werten steht. Man schreit auf, wenn Unsägliches
       gesagt wird – doch gleichzeitig bleiben die Augen geschlossen.
       
       Die großen Titelseiten und Debatten in Deutschland zu Bihać bleiben aus.
       Intensiv betreibt man unterdessen Sprachkritik an den Rechtspopulisten.
       Gleichzeitig ist es „unser Europa“, [4][das von der kroatischen Polizei
       verteidigt wird]. Es heißt, die Abwehr sei hart. Das Licht der Rhetorik
       jener, die sich moralisch überlegen geben, bricht sich am Prisma dieser
       Ereignisse.
       
       Es sind Zeiten, in denen die Ebene der Sprachkritik nicht ausreicht. Im
       Gegenteil: Die exponierte Stellung, die Sprachkritik eingenommen hat, ist
       ein Beweis für die Weltabgewandtheit der deutschsprachigen Diskurse. Man
       kann nicht immer nur den Chef der Münchner Sicherheitskonferenz befragen,
       wenn man diskutieren möchte, wie politische Haltungen in politische
       Handlungen umzusetzen sind.
       
       ## Zu viele für den kleinen Ort
       
       Solidarität wird nicht allein dadurch hergestellt, dass ich mich gegen den
       Autor eines Meinungsartikels in Szene setze. In dieser Zeit erzähle ich
       die notwendigen Geschichten nicht. Solidarität ist geteilte Verantwortung
       und nicht nur gemeinsamer Aufschrei in der eigenen Komfortzone.
       
       Die Bewohner von Bihać zeigen Verantwortung, weil sie Krieg und Flucht
       selbst noch in den Knochen haben. Aus der anfänglichen Hilfsbereitschaft
       erwachsen mittlerweile Spannungen zwischen den Einheimischen und den
       Menschen auf der Flucht. Es kommen zu viele für den kleinen Ort.
       
       Die Bosnier, so lese ich, verloren die Fassung jedoch erst, als Flüchtlinge
       aus Afghanistan ihre Gänse aus dem Fluss finngen und grillten. Man habe, so
       sagen sie, nicht einmal im Krieg die Wahrzeichen dieser Stadt angerührt.
       Enten und Gänse hätten, so die Legende, einmal Bihać vor den Osmanen
       gerettet.
       
       Die Entfremdung der Einheimischen von den Menschen in Not erzählt sich über
       das Schicksal der Gänse des Flusses Una. Eine europäische Tragödie, die an
       Banalität kaum zu überbieten ist.
       
       ## Die Sache mit den Gänsen
       
       Die Verantwortlichen vor Ort nehmen die Geflüchteten in Schutz. Sie sagen,
       unter den Umständen, unter denen sie hier lebten, wäre niemandem zu
       verübeln, wenn er sogar sich selbst äße. Die Sprache ist drastisch – ich
       hoffe, das überleben die Sprachkritiker.
       
       Viele Menschen in Bihać sprechen voller Mitgefühl über die
       Hilfsbedürftigen: Die meisten seien wunderbar, einige seien, wie überall,
       schwierig. Erst das Ereignis mit den Gänsen, geboren aus der Not, trieb
       einen Keil zwischen Helfer und Hilfe Empfangende. So wie die Ungewissheit
       darüber, wie viele noch kommen werden; darüber, wie viel Hilfe von außen zu
       erwarten ist.
       
       Letztere erhält das Nachbarland Kroatien. Hier kaufen deutsche Firmen und
       Investoren sich ins Urlaubsparadies ein. Eine der Trauminseln, Brač, soll
       dank TUI Deutschland eine der größten Hotelanlagen erhalten, für die das
       Wasseraufkommen der gesamten Insel nicht reichen würde.
       
       Auch hier gehen die Bewohner auf die Barrikaden – wegen einer ganz anderen
       Art von Landnahme. Wegen eines Kapitalismus, der die Transformation dieses
       Landes nutzt, um mithilfe der Eliten vor Ort das Land an ausländische
       Investoren zu verkaufen.
       
       ## Nie wieder
       
       Hier mischt sich der Westen ein. Auf beiden Seiten sind es die reichen
       Industrienationen, ihre Regierungen oder Konzerne, die Einheimische vor
       vollendete Tatsachen stellen.
       
       In Deutschland erinnert man unterdessen [5][den Jahrestag des Mauerbaus].
       Emotional aufgeladen wird beteuert: „Nie wieder Mauern“. Nie wieder.
       Geschichtspathos, das über die Gegenwart gekleistert wird wie eine billige
       Fassade. Man lernt aus der Vergangenheit, indem man in der Gegenwart Taten
       folgen lässt.
       
       In Deutschland wird derzeit ein merkwürdiger aufgeheizter Wertediskurs
       geführt, der das Land dennoch wie Watte vor dem eigentlichen Elend
       abschirmt. Auch eine verhinderte Abschiebung löst die großen Fragen nicht,
       wenngleich sie natürlich Menschen rettet.
       
       Am Jahrestag der deutschen Mauer mauert Europa. Eine Mauer auf dem Rücken
       der Schwächsten in und um Europa. Im besten Fall werden die Gänse auf dem
       Fluss Una auch dieses Mal ihre Stadt retten. Diesmal vor einer
       Weltgemeinschaft, die einfach nicht hinsehen will.
       
       15 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
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   DIR [3] /Auf-der-Balkanroute/!5506936
   DIR [4] /Gefluechtete-in-der-EU/!5521293
   DIR [5] /Gedenken-an-den-Mauerbau-in-Berlin/!5528072
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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