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       # taz.de -- Neuer Film von Gus Van Sant: Kunst der Körperlichkeit
       
       > Gus Van Sant hat das Leben des Cartoonisten John Callahan verfilmt. Dass
       > der Film halbwegs gelungen ist, liegt vor allem an Joaquin Phoenix.
       
   IMG Bild: Joaquin Phoenix in Gus Van Sants „Don't worry, weglaufen gilt nicht“
       
       „Mein Name ist John und ich bin Alkoholiker.“ Vom Selbstbekenntnis
       entwickelt sich dieser Satz im Laufe von Gus Van Sants filmischer Biografie
       des Cartoonisten John Callahan, „Don’t worry, weglaufen geht nicht“, zu
       einer lakonischen Selbstbehauptung. Van Sants Film beruht auf Callahans
       Autobiografie, mit der der Film auch den Titel teilt.
       
       Callahan war seit 1972 querschnittsgelähmt, nach einem Autounfall mit 21
       Jahren, bei dem sowohl der Fahrer als auch Callahan als Beifahrer betrunken
       waren, und er arbeitete sich nur sehr allmählich ins Leben zurück. Nach
       Jahren in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen konfrontiert er sich auf
       einem Treffen der anonymen Alkoholiker mit seiner eigenen Vergangenheit:
       seinem Alkoholismus, dem Unfall, den Schwierigkeiten, sich mit dem Leben
       als Querschnittsgelähmter zurechtzufinden, und den Schwierigkeiten, die ihm
       durch seinen weiterhin lebhaften Lebenswandel mit den Betreuungsbehörden
       entstehen.
       
       Gus Van Sant beginnt seine filmische Biografie schon während der
       Anfangssequenz mit einer Reihe von Zeitsprüngen, durch die
       Therapiesitzungen, öffentliche Auftritte und Callahans Zeichnen eins
       werden. Die Aufarbeitung der Zeit vor dem Unfall, der Alkoholeskapaden, die
       dann in diesem gipfeln, lässt Van Sant aus Callahans Erzählung während
       einer Therapiesitzung entstehen.
       
       Doch diese verwobenen Zeitebenen weichen im Verlauf des Films jener
       narrativen Linearität, die filmische Biografien so oft in Konventionalität
       versinken lassen. Diese Klippe umschifft auch Gus Van Sant nicht ganz. Über
       Wasser gehalten wird der Film wie die meisten der besseren Biopics von der
       Lebensgeschichte, die er entrollt.
       
       ## Callahans unverschämte Ehrlichkeit
       
       Callahans unverschämte Ehrlichkeit sich selbst und der Welt gegenüber, die
       er sich in den Jahren therapeutischer Selbstbefragung erarbeitet hat,
       bietet der Konventionalität vieler Künstlerbiografien mit ihrer Struktur
       aus romantischen Zweierbeziehungen, Leidensphasen und genialischen
       Einfällen Paroli. Zwar findet sich all das auch in Callahans Leben, zeigt
       sich aber so eng durchwoben und so unvermittelt aufeinanderprallend, dass
       kein Raum für kitschige Strukturen bleibt.
       
       In den achtziger Jahren wurde Gus Van Sant als Regisseur für unabhängiges
       queeres Kino bekannt. Spuren davon finden sich in der Darstellung von
       Callahans Umfeld im Film, vor allem in den Therapiesitzungen der anonymen
       Alkoholiker, die Van Sant als Treffpunkt einer Gruppe von Außenseitern
       inszeniert.
       
       Die Figuren des schwulen Poeten, der die Therapierunde mit sexuell
       expliziten Gedichten ins Diskutieren bringt, mag sich in der Autobiografie
       finden, die Besetzung eines weiteren Therapieteilnehmers mit der queeren
       Ikone Udo Kier geht klar auf das Casting und Gus Van Sant zurück. Im
       Nebeneinander der skizzierten Lebenswege der anderen Therapieteilnehmer und
       des Lebenswegs Callahans ergibt sich ein Gesellschaftsbild der Ränder der
       US-amerikanischen Gesellschaft.
       
       Callahans Cartoons fließen auf dreierlei Weise in den Film ein: als Skizzen
       in einem Zeichenbuch, das Callahan bei sich trägt, als gedruckte Cartoons
       in Zeitungen und Zeitschriften und in Ausschnitten aus einem kurzen
       Animationsfilm, den Callahan 1993 realisiert hat, „I Think I Was an
       Alcoholic“. Die Skizzen zeigt Callahan seinem Umfeld, um den Humor zu
       testen oder Anregungen zu erfragen.
       
       ## All das Mitleid und all die Bevormundung
       
       Die gedruckten Cartoons sind oft begleitet von Sequenzen, in denen die
       Reaktionen der Gesellschaft auf der Straße gezeigt werden. Auf begeisterte
       Reaktionen folgt nicht selten Empörung über die vermeintliche
       Geschmacklosigkeit. In einem Interview mit dem New York Times Magazine
       erklärte John Callahan 1992: „Mein einziger Kompass dafür, ob ich zu weit
       gegangen bin, ist die Reaktion von Leuten in Rollstühlen und mit Haken als
       Hände. Wie ich haben sie genug von Leuten, die behaupten, für die
       Behinderten zu sprechen. All das Mitleid und die Bevormundung. Das ist es,
       was wirklich widerlich ist.“
       
       Auch der Film zeigt Callahan weitgehend unangefochten von der Empörung, die
       seine Cartoons vor allem dann auslösen, wenn sie mit Stereotypen arbeiten.
       Die Sequenzen aus „I Think I Was an Alcoholic“ kommentieren einerseits
       bestimmte Szenen des Films, nehmen aber andererseits auch oft Callahans
       Rückblick mit viel Selbstdistanz vorweg, als es ihm endlich gelungen ist,
       aus den gröbsten Suchtproblemen und der Selbstzerfleischung herauszukommen.
       
       „Don’t worry, weglaufen geht nicht“ hat eine lange Produktionsgeschichte.
       Mitte der neunziger Jahre machte der Schauspieler Robin Williams Gus Van
       Sant auf John Callahans 1989 erschienene Autobiografie aufmerksam. Williams
       hatte Sony dazu gebracht, die Filmrechte an dem Buch zu erwerben. Bis dahin
       war Callahan Van Sant nach eigener Aussage nur als Cartoonist und als
       Regisseur von „I Think I Was an Alcoholic“ ein Begriff. Zwei Drehbücher
       entstanden, knapp 20 Jahre vergingen. 2010 starb John Callahan, 2014 Robin
       Williams, der immer für die Rolle als John Callahan vorgesehen war.
       
       Nach Williams’ Tod ging das Studio, so Van Sant in einem Interview mit dem
       Onlinemagazin slant, seine Unterlagen durch und stellte fest, dass Sony
       noch immer die Rechte an Callahans Autobiografie besaß, und fragte dann, ob
       Van Sant Pläne damit habe. Die Suche nach einem neuen Hauptdarsteller
       begann. Als die Wahl schließlich auf Joaquin Phoenix gefallen war, schrieb
       Van Sant ein drittes Drehbuch und begann mit den Arbeiten an dem Film.
       
       ## Leider steuerte Phoenix auch Ideen zum Film bei
       
       Leider hat Phoenix laut Gus Van Sant auch einige Ideen zum Film beisteuern
       dürfen: So findet Callahan – anders als in der Autobiografie – in Van Sants
       Film den Fahrer des verhängnisvollen Unfalls wieder und sie versöhnen sich
       leinwandtauglich. Eine Szene, die man umgehend aus dem Gedächtnis streichen
       möchte. Im Januar feierte der fertige Film seine Weltpremiere in Sundance,
       im Februar folgte die Europapremiere auf der Berlinale.
       
       Van Sants Film ist am stärksten in den Szenen von Callahans langem Weg zu
       einem Umgang mit seiner Querschnittslähmung. Krisen und Erfolge liegen in
       dieser Zeit nah beieinander. Als etwa Callahans Einzelfallhelfer einkaufen
       geht und Callahan kurz darauf verzweifelt versucht, eine Flasche Wein zu
       entkorken, ihm die Flasche entgleitet und der Hamster flüchtet, eskaliert
       das in einer existenziellen Herausforderung.
       
       Als Callahan entdeckt, dass mit der Querschnittslähmung nicht jede
       Sexualität ausgeschlossen ist, scheint ihm die Welt offenzustehen. Momente
       nachdem er seinen ersten Elektrorollstuhl bekommt, dreht er sich mit dem
       Rollstuhl schneller und immer schneller im Kreis.
       
       Dieses Auf und Ab in aller Körperlichkeit darzustellen ist kein kleines
       Verdienst von Joaquin Phoenix und Gus Van Sant und bewahrt den Film davor,
       in Sentimentalität zu kippen. Keine dieser Szenen hält den Film jedoch
       davon ab, etwas geschmäcklerisch zu wirken – gerade auch angesichts des
       Humors des Porträtierten.
       
       Dass „Don’t worry, weglaufen geht nicht“ dennoch eine halbwegs gelungene
       Biografie Callahans geworden ist, liegt neben dessen interessanter
       Lebensgeschichte vor allem an Joaquin Phoenix als Hauptdarsteller. Phoenix
       spielt Callahan zurückgenommen und lässt dessen Biografie durch die Figur
       hindurch zur Geltung kommen.
       
       16 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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