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       # taz.de -- Die DDR-Jugend und der Prager Frühling: Ein herrliches Lotterleben
       
       > Vor 50 Jahren endete der Prager Frühling. In der DDR protestierten
       > Jugendliche. Die MusikerInnen Bettina Wegner und Toni Krahl erinnern
       > sich.
       
   IMG Bild: Alles ruhig in Ost-Berlin 1968? Nicht ganz. Abseits von Unter den Linden hatte die Jugend Frühlingsgefühle
       
       An der Schönhauser Allee, an der Grenze zwischen Berlin-Prenzlauer Berg und
       Mitte, gegenüber dem Industriedenkmal Pfefferberg, jetzt ein Kulturareal,
       und der Nachtschwärmerbastion 8MM Bar, residierte 1968 die
       tschechoslowakische Botschaft in Ost-Berlin. Dort, wo sich jetzt ein
       Supermarkt und ein italienisches Restaurant befinden, trafen sich kurz nach
       dem 21. August 1968 drei Ost-Berliner Jugendliche und schafften es, an
       sechs Polizisten vorbei in das Gebäude zu gelangen.
       
       In Prag hatten gerade Panzer des Warschauer Pakts das Experiment eines
       freiheitlichen, ansehnlicheren Sozialismus im Bruderland ČSSR planiert:
       „Der Einmarsch kam aus heiteren Himmel“, meint die Liedermacherin Bettina
       Wegner rückblickend. „Es war ein wunderschöner Sommer“, sagt Toni Krahl,
       einer der drei Botschaftsbesucher. Krahl, jetzt Sänger der Rockband City,
       war damals Schüler und 18, Wegner 20 Jahre jung und hatte den Ost-Berliner
       [1][Hootenanny-Club] mitbegründet, einen Singeverein nach US-amerikanischen
       Vorbild.
       
       Krahl und Wegner sind jetzt befreundet. Damals kannten sie sich nicht, doch
       haben sie – an unterschiedlichen Orten – gegen den Einmarsch in Prag
       protestiert. Sie waren damit nicht allein. Im Oktober 1968 sollte der
       Generalstaatsanwalt der DDR eine Statistik über Personen vorlegen, die im
       Zusammenhang mit den „Hilfsmaßnahmen der Bruderstaaten“ auffällig geworden
       waren. Er zählte insgesamt 1.189 Personen, wobei die Masse der „Straftäter“
       zwischen 16 und 30 Jahre alt war.
       
       ## Die meisten waren Arbeiter
       
       Zählt man noch diejenigen unter 16 Jahren hinzu, kommt man auf 75 Prozent,
       das heißt, drei Viertel aller Ermittelten waren unter 30 Jahre. Die hier
       zitierte Studie der Robert-Havemann-Gesellschaft weiß noch mehr: Nur 1,7
       Prozent der belangten Personen waren Intellektuelle und 8,5 Prozent
       Schüler, während 84,2 Prozent Arbeiter waren. Ein Zahlenverhältnis, das
       gerne vergessen wird, meint Krahl: „Nicht alle sind Schriftsteller oder
       Musiker geworden.“
       
       Welcher Art war das Prager Pulver, das diese Jugendlichen antrieb? Bettina
       Wegner hatte vor 1968 die tschechoslowakische Hauptstadt und Warschau
       besucht. Bereits damals war ihr ein Kontrast, eine „andere Mentalität als
       die unserer DDR-Bürger“ aufgefallen; sie spricht von „möglichen Stationen,
       wo die Leute anders waren“.
       
       Toni Krahl, der genau im Frühjahr 1968 mehrmals Prag besucht hatte, führt
       aus: „Da war erstens eine Aufbruchstimmung, die bereits an der Jahreszeit
       lag. Dann auf den Straßen diese Diskussionskultur, diese Hippies, ob sie
       nun aus Polen oder Portugal kamen. Es gab die Zeitschriften und Platten,
       nach denen wir uns sehnten.“ Ein vielsprachiges Radebrechen über Musik und
       Kafka auf dem Wenzelsplatz, Dylan-Songs und Weltläufigkeit: „Als DDR-Bürger
       fühlten wir uns plötzlich als Europäer.“
       
       ## „Sozialismus hätte ich gerne gehabt“
       
       „Da war nichts Böses“, meint er, der damaligen, den Einmarsch
       rechtfertigenden DDR-Propaganda zum Trotz: „Das war ein herrliches
       Lotterleben.“ Sonntagabends dann, auf der Rückfahrt, habe er das Gefühl
       gehabt, ersticken zu müssen: „Erst recht, wenn ich die Zeitungen
       aufschlug.“
       
       Bettina Wegner und Toni Krahl waren als DDR-Jugendliche in einem Zwiespalt
       aufgewachsen, der für viele prägend wurde. Wegner hatte 1968 ihre
       Desillusionierung bereits hinter sich. In der Schule sei sie noch gläubig
       gewesen, „mit dem Eintritt ins Arbeitsleben war damit Schluss“: „Ich habe
       nicht mehr geglaubt, dass das, was die praktizieren, Sozialismus ist.“ Sie
       betont: „Sozialismus hätte ich gerne gehabt.“
       
       Krahl spricht vom erlebten Widerspruch zwischen seinen Eltern, überzeugten
       Kommunisten, dabei Pazifisten, und seinem Schuldirektor und den
       Funktionären: „Ich wusste, die müssen nicht so sein. Es gibt ja auch meinen
       Vater. Und es gibt Dubček.“ Alexander Dubček, Generalsekretär der
       tschechoslowakischen Kommunisten und Leitfigur des Prager Frühlings, von
       dem Ende August 1968 kurze Zeit nicht bekannt war, wo er verblieben war,
       bis durchsickerte, er sei in Moskau zu einer „freundschaftlichen
       Aussprache“, wie Krahl nicht ohne Ironie bemerkt.
       
       ## „Funktionärskinder“
       
       Bettina Wegner und Toni Krahl stammen aus der DDR-Intelligenz.
       „Funktionärskinder“, wie es hieß. Wegner nimmt das Wort im Interview
       vorweg. Ihr Vater arbeitete als Redakteur der Täglichen Rundschau, einer
       Vorgängerin der SED-Tageszeitung Neues Deutschland, an der Krahls Vater
       Abteilungsleiter war. Wegners Eltern waren nach der DDR-Gründung aus dem
       West-Berliner Lichterfelde nach Ost-Berlin gegangen; ein Schritt, der auch
       ökonomische Gründe hatte, wie sie sagt.
       
       Krahls Vater hatte seine Mutter während der Emigration vor den Nazis in
       Prag kennengelernt. Für den Sohn ein Grund mehr, zu protestieren: „Ich
       hatte immer ein warmes Gefühl für die Tschechen.“
       
       Als Sozialisten bei Sozialisten einmarschierten, war anfangs überhaupt
       nicht klar, ob auch die NVA, die Armee der DDR, dabei sein würde. Sie stand
       an der Grenze und durfte nicht weiter. Bettina Wegner: „Wir dachten, wir
       sind mit drin.“ Und das knapp zwanzig Jahre, nachdem die deutschen Besatzer
       Prag verlassen mussten.
       
       Eine ungeheuerliche Vorstellung für Wegner, Krahl und andere Ost-Berliner
       Jugendliche: Wegner gehörte zu dem Kreis um den jungen Schriftsteller
       Thomas Brasch, Sohn des stellvertretenden Kulturministers der DDR; sie
       hatte mit ihm ein neugeborenes Kind. Die junge Mutter sollte Flugblätter
       mit Parolen wie „Es lebe das rote Prag“ oder, bitter treffend, „Stalin
       lebt“ schreiben. Bevor sie sie verteilte, musste sie sich in einer Pankower
       Kneipe Mut antrinken.
       
       ## Solidarität mit dem tschechoslowakischen Volk
       
       Krahls Botschaftsprotest sah etwas anders aus: „Wir hatten erwartet, dort
       würde ein Kondolenzbuch ausliegen, wir könnten eine Protestnote
       unterschreiben und ein Empfangskomitee würde auf uns warten.“ Wer Krahl und
       seine Freunde empfing, war ein einzelner Sekretär, dem sie ihre
       handgeschriebenen Zettel – „Solidarität mit dem tschechoslowakischen Volk“
       – überreichten.
       
       Sie erhielten dafür schlechte, bräunliche Kopien mit Beschlüssen des da
       schon illegalen Parteitags der KSČ, der Kommunistischen Partei der
       Tschechoslowakei. Krahl und seine Freunde reichte das nicht: „Ich wollte
       nicht Chorsänger sein, ich wollte Gesicht zeigen.“ Sie organisierten eine
       Protestkundgebung vor der sowjetischen Botschaft Unter den Linden und
       scheiterten „kläglich mangels Masse“.
       
       „Der 68er Protest hat für die Bevölkerung keine Rolle gespielt“, schätzt
       Krahl ein. Er und Wegner sollten die Bevölkerung kennenlernen, als sie sich
       nach ihrer Haft zur Bewährung in der sozialistischen Produktion
       wiederfinden müssen. Von der Begegnung mit denen, die auf dem Papier die
       herrschende Klasse in der DDR stellen sollten, erzählen beide durchweg ohne
       Bitternis.
       
       Toni Krahl landete in einem Schlosserkollektiv: „Klasse Leute“, sagt er.
       „Sogar die Genossen.“ Bettina Wegner wurde in das
       Reichsbahnausbesserungswerk Berlin-Schöneweide beordert. Über ihre
       Geschichte in der mehrheitlichen Frauenbrigade – „die waren toll, sehr
       solidarisch“ – zu reden, wurde ihr untersagt. Als sie dann das Schweigen
       brach, hieß es: „Kleine, das haben wir doch von Anfang an gewusst.“
       
       21 Aug 2018
       
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