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       # taz.de -- Massenausbruch in Chile: Lachse auf der Flucht
       
       > Aus einer Zuchtfarm in Chile sind Hundertausende norwegische Lachse
       > entkommen. Umweltschützer fürchten hohe Antibiotikabelastungen.
       
   IMG Bild: Flüchte, Lachs, flüchte!
       
       Es wäre ein großartiger Trickfilm. Aber in der Realität ist es „eine
       Umweltkatastrophe mit schweren und noch nicht vorhersehbaren Folgen“. Sagt
       jedenfalls Estefanía González, Koordinatorin für die Ozean-Kampagnen von
       Greenpeace. Der Plot: 700.000 Lachse nutzen ein Gewitter, um aus der
       Zucht(!)anlage des weltgrößten Lachsproduzenten auszubrechen. Weil die
       Geflüchteten mit Antibiotika vollgestopft sind, ist das umliegende
       Ökosystem in Gefahr.
       
       Die Anlage heißt Punta Redonda, steht nahe der chilenischen Stadt Calbuco
       und gehört dem norwegischen Nahrungsmittelkonzern Marine Harvest. Dieser
       ist mit einem Weltmarktanteil von 30 Prozent größter Akteur auf diesem
       Sektor. Anfang Juli entkamen rund 700.000 Fische.
       
       Tatsächlich passiert es immer wieder, dass Zuchtlachse aus solchen Farmen
       freikommen. 2017 waren es in Chile nach Greenpeace-Angaben rund 212.000.
       Ein Massenausbruch wie jetzt habe aber eine ganz andere Qualität, sagt
       González: „Es ist, als ob plötzlich 140 Millionen Mäuse in Santiago de
       Chile losgelassen würden.“ Mit den Lachsen seien auf einen Schlag so viele
       Antibiotika freigesetzt worden, wie in allen norwegischen Aquakulturanlagen
       innerhalb von vier Jahren verabreicht werde. Fressen größere Tiere wie
       Seelöwen oder Pinguine die Fische, hätte das unabsehbare Folgen für deren
       Bestände.
       
       Außerdem sind die aus norwegischen Zuchten importierten Lachse „eine fremde
       Spezies, die in diesen Gewässern gar nichts verloren hat und eine Gefahr
       für alle anderen Arten darstellt“. Besonders für Wildlachse: Kreuzen sich
       beide Arten, wären die ursprünglichen Bestände ganzer Wildlachsflüsse
       bedroht.
       
       ## Lokale Fischer jagen nun die Lachse
       
       Die chilenische Umweltaufsichtsbehörde Superintendencia del Medio Ambiente
       hat deshalb umgehend eine ganze Reihe von Maßnahmen verhängt. Unter anderem
       geht es dabei darum, an den wichtigsten Flussmündungen zu verhindern, dass
       die entkommenen Lachse in die Süßwassergewässer eindringen. Zudem muss
       Marine Harvest tote Lachse ordnungsgemäß entsorgen und für jede seiner
       Anlagen Sicherheitskonzepte vorlegen, wie Ausbrüche in Zukunft verhindert
       werden sollen. Nach Medienberichten drohen dem Unternehmen nicht nur
       Geldstrafen, möglich wäre auch, dass ihm die Konzessionen für Zuchtanlagen
       entzogen werden.
       
       Bei Marine Harvest nehme man die entstandene Situation „wirklich ernst“,
       versichert Ola Helge Hjetland, Kommunikationschef des Konzerns: Man bemühe
       sich, den Schaden zu begrenzen und so viele Tiere wie möglich wieder
       einzufangen. Dabei arbeite man auch mit lokalen Fischern zusammen. Das
       Unternehmen habe eine Prämie für jeden toten oder lebenden Zuchtlachs
       ausgesetzt.
       
       Warum die erst 2017 errichteten und auf schwere Wetterbedingungen hin
       konstruierten Anlagen kollabiert seien, werde derzeit untersucht. Dass die
       Lachse tatsächlich so viele Antibiotika bekamen, wie Greenpeace behauptet,
       bestreitet das Unternehmen zumindest teilweise. Eigene Analysen hätten
       Antibiotika-Spuren bei nur rund einem Fünftel des Bestands ergeben, und
       diese lägen im Rahmen der in Chile zulässigen Grenzwerte.
       
       ## „Größter Massentierhalter der Welt“
       
       Die Geschäfte von Marine Harvest sind Umweltorganisationen schon lange ein
       Dorn im Auge. Greenpeace spricht vom „größten Massentierhalter der Welt“.
       Die Umweltschützer werfen dem Konzern vor, ganz bewusst vor allem in
       Gebieten wie vor der chilenischen Küste zu expandieren, weil die
       Tierschutz- und Umweltauflagen dort wesentlich weniger streng sind zu als
       beispielsweise in Norwegen oder Schottland. Chile sei, so Greenpeace, „ein
       Paradies für Investoren, die rücksichtslos produzieren wollen“.
       
       Doch auch in Norwegen selbst sorgt Marine Harvest immer wieder für
       Negativschlagzeilen. Im August 2005 gelangten bei einem Massenausbruch
       450.000 Zuchtlachse in die Umwelt. Die norwegische Fischereibehörde führt
       eine sogenannte Rømmingsstatistikk (übersetzt: Entweichstatistik). Sie
       umfasst allerdings nur die offiziell gemeldeten Ausbrüche.
       UmweltschützerInnen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.
       
       Nach den offiziellen Zahlen kamen in diesem Jahr bislang 114.000
       Zuchtlachse frei, darunter allein 56.000 aus einer Marine-Harvest-Anlage im
       Arnøyfjord. Die Lachse enthielten so hohe Medikamentenreste, dass die
       Behörden dringend von einem Verzehr abrieten. Auch in Kanada kam es
       [1][2010 zu Protesten gegen Marine Harvest].
       
       Jeder entwischte Zuchtlachs sei einer zu viel, konstatiert Robert Eriksson,
       Direktor des norwegischen Verbands der Meeresfrüchteproduzenten. Aber die
       Branche habe sich schon gebessert, 2006 habe es noch fast eine Million
       freigesetzter Lachse gegeben. Die Strafen seien zu gering, kritisiert der
       norwegische Jäger- und Fischerverband: Falls es überhaupt welche gebe,
       könnten die Unternehmen sie aus der Portokasse zahlen.
       Umweltschutzorganisationen betonen, dass es nur eine sichere Methode gebe,
       die Freisetzung von Zuchtlachsen zu verhindern: Aquakulturanlagen an Land.
       Doch das würde die Produktion massiv verteuern.
       
       31 Jul 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tierquaelerei-in-der-Lachszucht/!5147644
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
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