# taz.de -- Buch zur Baugeschichte in Berlins Mitte: Einstürzende Altbauten
> Eine Geschichte von Abriss und Kahlschlagsanierung: Benedikt Goebel
> zeichnet in „Mitte!“ die Umgestaltungen des Berliner Stadtkerns nach.
IMG Bild: Weggemacht, jetzt wieder da: 1950 wurde das Stadtschloss gesprengt, bald ist es neu fertig
Es ist schon erstaunlich, welch tiefe Ablehnung Architektur hervorrufen
kann. „Es scheint unabwendbar, dass hier einst eine Blut- und Eisenpolitik
einzusetzen hat, wobei erstere durch schmerzliche Opfer dargestellt wird,
letztere durch die Spitzhacke, die heilsame Durchbrüche für die
vordringenden Verkehrswogen schaffen wird.“ Mit dieser archaischen
Ansprache kündigte 1910 der Architekt und Stadtplaner Hermann Jansen seine
Pläne für eine großangelegte Sanierung der Innenstadt von Berlin an.
Die wurde nie ganz ausgeführt, doch für den in Berlin lebenden
Stadtforscher Benedikt Goebel sind sie Teil eines unheilsamen Schicksals,
das sich von 1850 bis in die neunziger Jahre über die Berliner Mitte gelegt
hat. Im Lukas-Verlag hat er mit „Mitte!“ jetzt ein Buch zur historischen
Entwicklung der Berliner Innenstadt veröffentlicht. Für ihn ist sie eine
Geschichte von Abriss und der Kahlschlagsanierung. Die vielen voller
Verlustgefühl aneinandergereihten Bilder und kurzen Texte sind ihm
Dokumente der Zerstörung von Gebäuden und der historischen Ignoranz von
Stadtplanern.
Stehen in dem Buch auf einer Aufnahme von 1867 rechts an der langen
Stechbahn noch die klassizistischen Bürgerhäuser straff, kippen sie links
einfach weg, als wären sie von einem Schießkommando niedergestreckt worden.
Auf einer anderen Fotografie von 1894 häufen sich große Schuttberge vorm
Berliner Schloss. Sie sind das Überbleibsel der heute längst vergessenen
Schlossfreiheit. In dieser engen Häuserzeile direkt am Spreeufer tranken im
Café Josty Bürgerliche und Adelige zugleich ihren Tee. Kaiser Wilhelm II.
ließ sie abreißen.
Auch heute, wo die Schlosskuppel nunmehr aus massivem Beton wieder in den
Stadthimmel ragt, wird ein Aufbau dieser zehn barocken Häuschen der
Schlossfreiheit nicht diskutiert. Stattdessen soll die Einheitswippe an
ihre Stelle. Bei einer Stadtgeschichte mit so viel an Abriss, Überbauung
und städtebaulichen Überlagerungen, wie Goebel ausführt, kann letztlich nur
eine Auswahl rekonstruiert werden, a pick from history.
## Wunsch nach der alten Dichte
Dass so ein punktueller Griff in die Stadtgeschichte immer vereinfachend
ist, thematisiert Goebel, ein Befürworter des Wiederaufbaus des Schlosses,
aber nicht. Vielmehr wünscht er sich allgemein für Berlins Mitte wieder
eine Rückkehr zu ihrer alten Dichte, wie sie sich halt so um 1850 noch in
der Stadt abbildete.
Zur Veranschaulichung greift er auch süße Anekdoten heraus, die heute
bitter nachschmecken. Die kleine Gasse am Krögel etwa, wo sich jetzt das
steinerne Reichsbankgebäude entlang des Spreekanals streckt, stand die
dreißiger Jahre über zum Abriss bereit. Die Arbeiten an der Reichsbank
verzögerten sich, und das verlassene Sträßchen mit bröckelndem Putz und
wild bewachsenem Trottoir wurde zu einer beliebten Kulisse für romantische
Streifzüge und Amateurfotografen. Ein kleiner Sehnsuchtsort des einfachen
Stadtbewohners, kurz bevor die Nationalsozialisten einen Teil ihres
gigantischen Germanias dort anlegten. Der Krögel wurde schließlich
abgerissen.
Ohnehin sei der weitaus größte Teil der Berliner Mitte in der NS-Zeit
städtebaulich und architektonisch geprägt worden und zu DDR-Zeiten. Goebel
zieht ohne Zögern eine Parallele zwischen DDR-Zeit und Nationalsozialismus.
Dass die Nazis steinerne Monumentaltempel bauten und der DDR-Regierung eher
am gemeinschaftlichen Wohnen mit sozialistischem Kulturangebot gelegen war,
differenziert Goebel nicht aus. Vielmehr hätten beide Regimes mit
„diktatorischer Neugestaltung“ den überlieferten Stadtgrundriss radikal
verändert und – das ist wohl die Kernaussage dieses Buches – sie hätten das
kleinteilige private Bodeneigentum beseitigt. Nur durch den enteignenden
Zugriff auf das Grundeigentum hätten derart einschneidende riesige
Umbauprojekte wie die Reichsmünze der Nationalsozialisten oder die Bebauung
des Alexander- und des Schlossplatzes realisiert werden können.
## Viele Zurücks
Im Umkehrschluss ist für Goebel eine Rückkehr zum Privateigentum die
Lösung. Diese fordert er in einem Zug mit einem großen Zurück-Katalog für
Berlins Mitte: zurück zum vorindustriellen Stadtgrundriss, zurück zu einer
organischen Einheit, zurück zur Dichte.
Vor Goebels vielen Zurücks kann man Angst kriegen. Sollte es nicht darum
gehen, die Komplexität von Geschichte sichtbar zu machen, anstatt sie
erneut zu überbauen? Ein Beispiel für seine Vision einer neuen Berliner
Mitte könnte die viel umstrittene Bebauung an der Friedrichswerderschen
Kirche sein. Dort nehmen nun die Pläne des ehemaligen Senatsbaudirektors
Hans Stimmann Form an und die historische Morphologie des Viertels wird
durch zeitgenössische Neubauten sichtbar.
Doch das Viertel zeigt einen bösen Trugschluss dieser Stadtplanung:
Grundstücke aus einst öffentlicher Hand wurden zum teuersten Luxusstandort
Berlins. Direkt neben der Schinkelkirche zäunten sich die neuen Besitzer
mit einem dicken Metalltor kurzerhand ihre eigene Privatstraße ein: Der
Berliner Stadtbürger, so wie er Goebel vorschwebt, kann zwar rund um die
Kirche und die bald wiedererrichtete Bauakademie durch dichte Gassen
flanieren, aber er kriegt auch radikal zu spüren, wie exklusiv
Privateigentum ist.
Benedikt Goebel: „Mitte! Modernisierung und Zerstörung des Berliner
Stadtkerns von 1850 bis zur Gegenwart“. Lukas Verlag 2018, 157 Seiten,
19,80 Euro
19 Aug 2018
## AUTOREN
DIR Sophie Jung
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