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       # taz.de -- Debatte #MeTwo und Alltagsrassismus: Unrecht hat viele Gesichter
       
       > Reden über Alltagsrassismus ist kein Gejammer, sondern wichtig: Nur wenn
       > wir beschreiben, was uns passiert ist, können wir uns selbst ermächtigen.
       
   IMG Bild: Mehr als nur symbolisch: Diskriminierung wegen des Kopftuchs führt zu ökonimischer Ungerechtigkeit
       
       Früher oder später musste es ja passieren. Denn anscheinend immer, wenn
       Menschen ihre geballten Diskriminierungserfahrungen unter einem Hashtag
       versammeln, taucht eine*r auf, der ihnen zuruft: „Stellt euch nicht so an,
       ich hab dasselbe erlebt, und mir macht das alles nix!“
       
       So geschah es bei MeToo, wo nach Abertausenden Erzählungen von sexueller
       Belästigung und Gewalt einige andere Frauen vom Bildschirm herab erklärten,
       dass diese Vorfälle nun mal die Kosten der Freiheit seien. Und so ist es
       jetzt auch bei MeTwo, wo es um Alltagsrassismus geht.
       
       Der taz-Redakteur Jörg Wimalasena schrieb, dass es sich [1][um „Jammern auf
       hohem Niveau“ handele]: Ähnliche Erfahrungen habe er auch gemacht, aber sie
       hätten ihn „nicht daran gehindert, mein Leben so zu leben, wie ich es
       möchte. Es würde mir nicht plausibel erscheinen, mich selbst per Twitter
       als ‚Opfer‘ zu stilisieren, und sei es ‚nur‘ als Opfer von Rassismus, denn
       das bin ich nicht, und das möchte ich auch nicht sein.“
       
       Zu seinem geglückten Leben gratuliere ich ihm. Und es ist schön für ihn,
       dass er kein Opfer ist. Nicht nur auf deutschen Schulhöfen ist „Opfer“
       längst Schimpfwort geworden. Auch akademische Feministinnen haben in den
       letzten Jahrzehnten lernen müssen, dass die Beschreibung ihrer selbst und
       anderer als bloße Opfer die Handlungsmöglichkeiten von Frauen unsichtbar
       macht und sie weiter schwächen kann, statt sie zu stärken. „Opfer“ ist
       tatsächlich ein heikles Konzept.
       
       ## Ein Pendel der Extreme
       
       Doch wenn mir einer ins Gesicht schlägt, bin ich Opfer dieses Schlagens.
       Wenn mich einer beleidigt, Opfer seiner Worte. Das nicht ernst zu nehmen
       und nicht darüber zu reden wäre nicht tapfer und nicht stark, sondern
       idiotisch.
       
       Die Philosophin Mary Midgley schreibt in ihren Memoiren, dass es uns
       Menschen leider nicht gelinge, das Pendel, wenn es nach extremem Ausschlag
       in die eine Richtung in die andere unterwegs sei, auf halbem Weg zu
       stoppen, bevor es ins gegenteilige Extrem umschlägt.
       
       So ein Fall scheint auch hier vorzuliegen: Sich zum Opfer zu stilisieren
       oder sich oder andere schwächer dastehen zu lassen, als sie sind, ist
       soziologisch nicht zutreffend und politisch nicht sinnvoll. Die eigene
       Schwäche, Verletzlichkeit und Interdependenz anerkennen, das an einem
       selbst begangene Unrecht wahrzunehmen und [2][entsprechende Rechte
       einzuklagen], jedoch sehr wohl.
       
       Selbstermächtigung funktioniert weder, wenn wir Verletzungen groß-, noch
       wenn wir sie kleinreden; wir können sie nur adäquat adressieren, wenn wir
       sie adäquat beschreiben. Und dass wir Opfer der Unrechtshandlungen anderer
       werden können, gehört zum Leben physischer, sozialer, emotionaler Wesen; in
       all diesen Hinsichten können wir verletzt und Opfer von Unrecht werden.
       
       ## Konkurrenz der Diskriminierungen
       
       Daher sind keineswegs, wie Wimalasenas Text suggeriert, nur oder vor allem
       ökonomische Härten die wahren Härten; auch verbale Schikanen und
       Herabsetzungen sind wirkliche Verletzungen, für wohlhabende Menschen ebenso
       übrigens wie für Arme. (Auch Geringverdiener*innen brauchen Anerkennung.)
       
       Wer das „Jammern“ über verbalen Rassismus mit dem Hinweis auf „echte“
       ökonomische Armut zu kontern versucht, [3][setzt Dinge miteinander in
       Konkurrenz], die tatsächlich eng miteinander verwoben sind.
       
       Übrigens oft auch kausal: Wenn die Bewerbung eine*r Bewerber*in mit
       Migrationshintergrund wegen des Namens oder eines Kopftuchs aussortiert
       wird, ist dies nicht „nur“ Rassismus auf der symbolischen Ebene, sondern
       führt auch zu ökonomischer Ungerechtigkeit. Wenn jemand aufgrund seines
       Akzents oder seiner Herkunft nicht für eine weiterführende Schule empfohlen
       wird, führt dies ebenfalls zu ökonomischer Ungleichheit.
       
       Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir dieser Tage, das Werk der viel zu früh
       verstorbenen amerikanischen Philosophin Iris M. Young sei auch in
       Deutschland etwas bekannter, vor allem ihr Konzept der „Fünf Gesichter von
       Unterdrückung“.
       
       ## Es geht um die Zusammenhänge
       
       Dabei hat es Young nämlich geschafft, das Pendel auf halbem Weg anzuhalten:
       Für sie gibt es beide Formen von Unterdrückung, ökonomische wie kulturelle,
       „harte“ wie „weiche“.
       
       Sie hat tatsächlich fünf Gesichter der Unterdrückung diagnostiziert:
       Gewalt, Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit und
       Kulturimperialismus. Sie betreffen fünf verschiedene Achsen sozialer
       Beziehungen; doch hängen sie miteinander zusammen, leisten einander
       Vorschub.
       
       Typischerweise ist eine unterdrückte soziale Gruppe nicht nur von einer
       Form von Unterdrückung betroffen, sondern wird sowohl ökonomisch als auch
       symbolisch marginalisiert; und soziale Machtlosigkeit und die Ohnmacht,
       sich erfolgreich gegen physische Übergriffe zu wehren, hängen oft zusammen.
       
       Dieses Zusammentreffen bedeutet eben strukturelle Ungerechtigkeit und macht
       aus manch einer Bemerkung, die ansonsten [4][nur „blöd“ oder „unhöflich“
       wäre], ein Symptom zum Beispiel von Rassismus.
       
       ## Unbekannte Expertinnen
       
       Vielleicht hat der eine oder die andere bemerkt, dass ich mich in diesem
       Text auf zwei weibliche Philosophinnen bezogen habe. Sie beide waren und
       sind sehr bedeutend für ihr Fach und dennoch der breiten Öffentlichkeit
       kaum bekannt. Generell ist die Philosophiegeschichte arm an weiblichen
       Figuren, und die Arbeiten der wenigen Ausnahmen werden wenig rezipiert.
       Auch das gehört in den weiteren Umkreis der MeToo-Debatte.
       
       Wobei die Art, wie Mary Midgley von den sexuellen Belästigungen ihrer
       Studienzeit spricht, vermuten lässt, dass sie wohl eher zur „Gegenseite“
       (von mir aus betrachtet) der MeToo-Debatte gehört. Aber das macht nichts.
       
       „Wir“ müssen nicht immer einer Meinung sein. „Wir“ erleben die Dinge
       vielfältig. Doch es ist essenziell, dass wir einander nicht Konkurrenz
       machen beim Aufdecken von Ungerechtigkeiten; das Ziel ist vielmehr ein
       Pluralismus von gleichermaßen adäquaten Beschreibungen eines Phänomens mit
       vielen Gesichtern.
       
       22 Aug 2018
       
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