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       # taz.de -- Performance „Do's & Don'ts“: Roadtrip durchs Regelland
       
       > Beim Hamburger Kampnagel-Sommerfestival lädt das Theater-Kollektiv Rimini
       > Protokoll zur Fahrt durch die Stadt in einem umgebauten LKW.
       
   IMG Bild: Unterwegs in Hamburg: der Truck und sein Guide
       
       HAMBURG taz | Eine verspiegelte Glasfassade trennt das Publikum von der
       Realität. Der Zuschauerraum befindet sich in einem umgebauten Truck, der
       durch die Stadt rollt. Die Theatergruppe Rimini Protokoll hat sich diesen
       Roadtrip ausgedacht und mit dem Konzept bereits Berlin und Essen erkundet.
       Jetzt fahren sie nahezu täglich durch Hamburg, im Rahmen des
       Sommerfestivals auf Kampnagel.
       
       Früher wurden in dem benutzten Mehrtonner Schweinehälften transportiert,
       jetzt Menschen, also Theaterzuschauer. Und wie es so ist beim Theater gibt
       es auch bei dieser „Fahrt nach allen Regeln der Stadt“ ein paar Do’s und
       Don’ts. „Alle anschnallen, Handys ausschalten und nicht pupsen“, so die
       Ansage der etwa achtjährigen Shalom Asamoha. Anschließend ist sie per
       Video- und Tonübertragung aus dem Fahrerhäuschen und auch mal auf dem
       gegenüberliegenden Gehweg zu erleben. In der Fahrerkabine plaudert sie mit
       dem Fahrer Rudi Bühne über ihr Leben.
       
       Als der gewichtige Mehrtonner losruckelt und Rudi nicht ohne Berufsstolz
       von seinen siebeneinhalb Punkten in Flensburg erzählt und von Ampeln, die
       für ihn maximal die Farbe kirschgrün haben, hält man inne. Und denkt an die
       vor Kurzem in Hamburg-Eimsbüttel tödlich verunglückte Radfahrerin. Im Mai
       dieses Jahres wurde sie von einem abbiegenden LKW überrollt.
       
       Mit mulmigem Gefühl sitzt man im Container des Lkw, versucht Rudis Sprüche
       zu ignorieren und seine Art, so selbst- und siegessicher über dem Verkehr
       zu thronen. Leidenschaftlicher Jäger ist er obendrein und so richtig
       sympathisch wird er einem während der Fahrt auch nicht.
       
       Aber das ist auch nicht sein Job. Er ist, wie die aufgeweckte Shalom und
       der charmant rebellische 16-jährige Oskar, der später zusteigt, ein
       „Experte des Alltags“. Während Rudi, der Lkw- und Verkehrs-Experte, durch
       die Stadt fährt, steigen Shalom und Oskar aus und wieder zu, erzählen von
       ihrem Alltag und erklären den Zuschauern ihre Regeln, ihre „Do’s & Don’ts“.
       Für diese sehr spezielle Art von Laien-Theater ist Rimini Protokoll
       bekannt.
       
       Von Shalom, die zunächst im Führerhäuschen sitzt, und die behauptet „das
       ängstlichste Mädchen von ganz Hamburg“ zu sein, hört man, dass sie oft „von
       der Sonne fällt“, wegen schlechten Betragens im Unterricht, dass sie dann
       Strafpunkte kassiert und nachsitzen muss. Außerdem hat sie sich mal vor
       einem raschelnden Busch erschreckt, singt im Chor, glaubt an Gott, mag die
       Polizei, mag Regeln und Ampeln, eben weil sie sich dann sicherer fühlt.
       
       Auf etwa halber Strecke der Fahrt, irgendwo im Autohaus-Niemandsland kurz
       vor den Elbbrücken, steigt sie aus und geht ein paar schnelle Schritte
       zwischen Lagerhäusern, Parkplätzen und dem Bordell „Lusthaus“ entlang.
       Ängstlich blickt sie in jede Toreinfahrt. Dieser Ausbruch ist ein absolutes
       „Don’t“ für sie, eine Mutprobe, obwohl der Truck das Mädchen im
       Schritttempo begleitet.
       
       ## Kampfmittelbergung im Osten der Stadt
       
       Vom vergessenen Ostteil der Stadt geht es in die Hafencity, wo extrateure
       Grundstücke in direkter Nachbarschaft zu Containersiedlungen liegen. Dort
       wird vor Kampfmittelbergung gewarnt, hier stehen Fahrräder am Zaun, hängen
       Teppiche darüber und spielen Kinder dahinter.
       
       Über weite Strecken ist auf dieser Fahrt die Stadtkulisse selbst die beste
       Bühne. Hin und wieder aber schiebt sich eine Leinwand vor den Ausblick.
       Dann werden aufwendige Videos eingespielt, die wenig suggestiv den
       gewinngeilen Kapitalismus, aalglatte Zukunftsvisionen und den
       selbstdenkenden Kühlschrank verdammen. Dazu erscheint und ertönt ein
       Kinderchor mit recht eindimensionale Zeilen wie „Is this the place we will
       live in – oder doch aufs Land?“ und skandiert „Just Do It“ und „Think
       Different“.
       
       Shalom muss später aus Thomas Hobbes’ „Leviathan“ zitieren, noch später
       werden erschreckende Zahlen zu Wohnraum und Räumungsklagen genannt. Auch
       Fahrer Rudi erzählt, dass er hin und wieder einen Einsatz bei einer
       Zwangsräumung hat: „Schufa-Eintrag und dann hast Du Pech gehabt.“
       
       Als der Truck eine Wasserstofftankstelle passiert, stellt die achtjährige
       Shalom dem Fahrer dann noch die Dieselfrage. Spätestens jetzt ist der
       Charme der Authentizität, den viele Rimini-Protokoll-Arbeiten inne haben,
       verpufft. Jetzt, da die Experten des Alltags keine Experten mehr sind.
       Jetzt, da der Abend künstlich aufgeblasen wird mit Inhalten und Botschaften
       zu Stadt- und Verkehrspolitik, zu smarten Utopien und Werbekampagnen. Jetzt
       wird er ungenau, verliert sich selbst aus den Augen und reckt sich ins
       Moralisch-Pathetische.
       
       Und doch fährt man weiter mit. Aussteigen ist schließlich ein „Don’t“. Also
       blickt man angeschnallt auf die „eigene“ Stadt. Betrachtet im Vorbeifahren
       Jogger, Alster-Segler und Menschen, die picknicken, Dosenbier trinken oder
       Fotos vom Sonnenuntergang machen. Man sieht Vorhänge zittern, fährt an
       Villen vorbei, an schäbigen Hotels, an Baubrachen, Ruderclubs,
       Auktionshäusern und schick frisierten Vorgärten.
       
       Und dann entdeckt man das Mädchen. Das Mädchen, das dort wartet, bis die
       Ampel von Rot auf Grün springt. Es tanzt. Scheinbar selbstvergessen und als
       wäre es unbeobachtet, bewegt es sich zum Rhythmus der Musik – die doch
       tatsächlich nur im Zuschauerraum zu hören ist. Aber das Mädchen tanzt
       eindeutig dazu. Eine Verkehrsinsel wird zur Bühne und die Fahrt hat sich
       gelohnt. Der Bildausschnitt lenkt den Blick und die Stadt selbst wird zum
       Ereignis.
       
       14 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Ullmann
       
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