URI: 
       # taz.de -- Debatte um Kindergeld für EU-Ausländer: Bigotterie der Mittelschicht
       
       > Billige Arbeit immer gerne, Sozialleistungen aber nicht: Im Streit um das
       > Kindergeld wird eine bigotte Osteuropa-Aversion befeuert. Eklig.
       
   IMG Bild: Viele osteuropäische Eltern arbeiten in Deutschland, ihnen steht das Kindergeld zu
       
       Berlin taz | Wer wissen will, wie sich eine Hetzdebatte im Internet
       entwickeln kann, sollte sich den [1][Streit um das Kindergeld für
       EU-Ausländer anschauen]. Duisburgs SPD-Oberbürgermeister Sören Link warnte
       vor kriminellen Schleppern, die gezielt Sinti und Roma dazu anstiften
       würden, mit gefälschten Dokumenten Kindergeld zu ergattern. Nun fordern
       mehrere Politiker – darunter Ralph Brinkhaus, der stellvertretende
       Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag – Kürzungen beim
       Kindergeld für EU-Ausländer, wenn der Nachwuchs nicht in Deutschland lebt.
       Von „Betrugsmaschen“, „Armutsflüchtlingen“ ist in den Medien die Rede.
       
       Die Bigotterie der deutschen Mittelschicht ist auffällig: Wenn es um
       billige Pflegerinnen, um günstige Handwerker geht, dann kommen
       osteuropäische Arbeitskräfte gerade recht. Aber bei Sozialleistungen wird
       schnell Betrug unterstellt.
       
       Die Debatte fing mit einem Fall überschaubaren Fall von Sozialmissbrauch
       an: In Nordrhein-Westfalen taten sich die Familienkassen mit den
       Meldeämtern zusammen und überprüften Kindergeldanträge in sogenannten
       Verdachtsfällen. In Düsseldorf und Wuppertal überprüfte man unter anderem
       die Anträge von EU-Ausländern, die sich in auffällig großer Zahl in
       bestimmten Wohneinheiten angemeldet hatten, die als „Schrottimmobilien“
       bekannt waren, erklärte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit der taz.
       
       In 40 dieser 100 Verdachtsfälle stellten die Ermittler tatsächlich
       Betrugsversuche und Fälschungen von Geburtsurkunden fest- nicht
       ungewöhnlich für Sozialfahnder, die sich auf randständige Milieus
       konzentrieren. Das bedeutet aber nicht etwa eine Betrugsquote von 40
       Prozent, schließlich waren die Verdachtsfälle zuvor schon keine Stichprobe
       gewesen, sondern gezielt ausgewählt worden, betont der Sprecher. In diesen
       Betrugsfällen wurde auch nicht Kindergeld für im Ausland lebenden Nachwuchs
       beantragt, sondern die Familien gaben an, komplett hier zu leben, nur
       legten sie eben teilweise gefälschte Geburtsurkunden vor, erläutert der
       Sprecher.
       
       Soweit handelt es sich um möglicherweise organisierten Sozialmissbrauch,
       aber im kleineren Rahmen. Die bundesweite Medienhatz gegen „Kindergeld für
       EU-Ausländer“, die darauf folgte, hat allerdings mit der festgestellten
       Kriminalität aus Nordrhein-Westfalen sachlich nichts mehr zu tun.
       
       Gleichzeitig nämlich veröffentlichte das Bundesfinanzministerium Zahlen
       über Kinder von EU-Ausländern, für die ein in Deutschland lebender
       Elternteil Kindergeld bezieht, obwohl der Nachwuchs im Heimatland lebt.
       Diese Zahl ist innerhalb eines halben Jahres um zehn Prozent auf 268.336
       Kinder gestiegen, eine „Rekordzahl“ meldeten die Agenturen, so als handele
       es sich um ein besonderes Phänomen.
       
       Dabei ist dank des Wirtschaftsbooms auch die Beschäftigung von
       EU-Ausländern in Deutschland gestiegen, die Zunahme der
       Kindergeld-Empfänger für den Nachwuchs im Heimatland kommt daher nicht
       unerwartet. Im übrigen beträgt das für diese Kinder gewährte Kindergeld nur
       etwa ein Prozent des gesamten Kindergeldes, das in Deutschland gezahlt
       wird. Und diese Zahl betrifft eben Kinder, die im Heimatland leben – darum
       aber ging es in den aufgedeckten Betrugsfällen in Düsseldorf und Wuppertal
       wiederum gar nicht.
       
       ## Indexierung ist nicht EU-Recht-konform
       
       Die aufkeimende Debatte um den angeblich massenhaften Sozialmissbrauch des
       deutschen Kindergelds durch Osteuropäer wurde in den Medienberichten mit
       einem anderen, älteren Streit vermischt: Es geht um die Frage, ob das in
       Deutschland gezahlte Kindergeld nicht niedriger ausfallen könnte, wenn der
       Nachwuchs nicht in Deutschland, sondern im Heimatland aufwächst, wo der
       Lebensstandard in der Regel niedriger ist. 194 Euro Kindergeld bekommt man
       in Deutschland für das erste Kind. Das ist viel mehr als etwa die 18 bis 43
       Euro, die es in Rumänien an Kindergeld gibt.
       
       Im Steuerrecht gibt es diese „Indexierung“ an die Lebenshaltungskosten
       bereits, in sogenannten Ländergruppeneinteilungen. Das heisst, wer hier
       lebt, aber für einen Angehörigen in Polen Unterhalt zahlen muss, kann nur
       etwa die Hälfte der Summe an Unterhaltskosten von der Steuer abziehen als
       wenn sein Ex-Partner auch in Deutschland leben würde.
       
       Die Bundesregierung hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode
       versucht, auch die Kindergeldzahlungen an die Lebensverhältnisse in den
       jeweiligen Ländern anzupassen. Brinkhaus erklärte am Freitag, man werde
       weiter daran arbeiten, die erforderliche Unterstützung für eine Indexierung
       zu bekommen. Es sei aber schwierig, dafür eine Mehrheit in Brüssel zu
       gewinnen. Die EU-Kommission ist gegen eine solche Indexierung und hält sie
       nicht mit EU-Recht vereinbar. Auch die Grünen sprachen sich am Freitag
       gegen eine Anpassung des Kindergeldes aus. Der Vorschlag sei „falsch und
       nach deutschem Recht kaum umsetzbar“, sagte Parteichefin Annalena Baerbock.
       
       Eine Indexierung bedeutete letztlich eine Lohnkürzung für viele
       EU-Ausländer in Deutschland. „Wir haben in Europa längst einen Wettbewerb
       um Arbeitskräfte“, sagt Tomasz Major, Präsident der polnischen
       Arbeitgeberkammer, „Deutschland spielt da nicht mehr die erste Rolle. Aber
       das Kindergeld macht Deutschland attraktiv“. Die fast 200 Euro pro Kind
       wirkten wie ein Lohnzuschlag, erklärt Major. Würde man diese Summe
       halbieren, wäre das eine Lohnkürzung um 100 Euro. „Die deutsche Wirtschaft
       profitiert letztlich vom Kindergeld“, so Major, „das sollte man sich
       sorgfältig überlegen, ob das gut wäre, wenn man da kürzte“.
       
       ## Deutsche Mittelschicht profitiert
       
       Die deutsche Mittelschicht lebt ansonsten sehr gut vom Wohlstandsgefälle
       zwischen den Ländern. Pflegerinnen aus Polen versorgen Hochbetagte in
       Deutschland, während der eigene Nachwuchs zuhause bei der Großmutter
       aufwächst. In Pflegeheimen oder in der Bauwirtschaft würde der Betrieb ohne
       die Fachkräfte aus dem EU-Ausland zusammenbrechen. Nur in der Frage der
       Sozialleistungen wird das Wohlstandsgefälle zu einem Problem
       hochstilisiert.
       
       Einzelfälle wie die Betrügereien in den NRW-Metropolen, die „schaden uns“,
       sagt eine Sprecherin des Polnischen Sozialrates, der ArbeitnehmerInnen aus
       Polen in Deutschland berät. „Da werden wieder alle in einen Topf geworfen,
       das ist ungerecht“. Die Sprecherin ist dafür, die Anträge auf Kindergeld
       genau zu überprüfen, um Betrüger herauszufiltern. In allen 14 regionalen
       Familienkassen in Deutschland sollen jetzt mehr Mitarbeiter damit
       beschäftigt werden, in der Zusammenarbeit mit Ordnungsämtern Betrugsfälle
       aufzudecken, berichtet der Sprecher der Bundesarbeitsagentur.
       
       10 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kindergeld-fuer-EU-Auslaender/!5524282
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
       ## TAGS
       
   DIR Kindergeld
   DIR Mittelschicht
   DIR Antiziganismus
   DIR Medienethik
   DIR Kindergeld
   DIR Kindergeld
   DIR Hubertus Heil
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Antiziganismus in den Medien: „Ungehemmter Rassismus“
       
       Obdachlosigkeit, Betteln, Kriminalität – immer wieder werden Roma in
       Berliner Medien damit in Verbindung gebracht. Sagt Andrea Wierich von Amaro
       Foro.
       
   DIR Kommentar Kindergeld für EU-Ausländer: Einladung zum Missbrauch
       
       Nur die Empfänger missbräuchlich bezogenenen Kindergelds zu bestrafen, löst
       das Problem nicht. Die Kassen tragen eine Mitverantwortung.
       
   DIR Kindergeld für EU-Ausländer: Missbrauch oder europäisches Recht?
       
       Bürgermeister wittern Betrug beim Kindergeld durch Migranten. Tatsächlich
       finden mehr EU-Bürger einen Job in Deutschland. Illegal ist das nicht.
       
   DIR Kindergeld für Arbeitslose: 50 Milliarden von Hartz IV gekürzt
       
       Wenn Hartz-IV-Empfänger Kindergeld bekommen, wird ihnen das
       Arbeitslosengeld gekürzt. In 10 Jahren wurden ihnen so Milliarden Euro
       weggenommen.