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       # taz.de -- Kolumne Latino Affairs: Neue Regierung und alte Kartelle
       
       > Der Journalist Oswaldo Zavala vergleicht in seinem neuen Buch Fiktion und
       > Wahrheit des mexikanischen Drogenmilieus.
       
   IMG Bild: Mexiko-Stadt im August: Polizisten bei der Festnahme eines mexikanischen Drogenbosses.
       
       Der Titel klingt provokativ. „Die Kartelle existieren nicht“ – nennt der
       Journalist Oswaldo Zavala sein jüngst in Mexiko erschienenes Buch. Anhand
       von Publikationen setzt sich der mexikanische Autor mit dem Phänomen
       auseinander, das gemeinhin als „narco“, als Drogenmafia, bezeichnet wird.
       Er wirft einen kritischen Blick auf das Bild, das Zeitungsartikel, Romane,
       Sachbücher und Spielfilme von den kriminellen Organisationen zeichnen.
       
       Zavala beschäftigt sich zu Recht intensiv mit Fiktionen. Denn gerade auf
       Erzählungen wie Don Winslows „Tage der Toten“ oder dem Netflix-Krimi „El
       Chapo“ basiert das populäre Wissen über den Alltag krimineller Banden, über
       Mafiabosse sowie deren Verbindungen zu korrupten Politikern oder
       Antidrogenbehörden. Daran ist einiges wahr. Wer Winslows Thriller liest,
       entdeckt viele Parallelen zu Ereignissen, die real stattgefunden haben.
       
       Auch die Verfilmung der Karriere des Chefs des Sinaloa-Kartells Jaoquín „El
       Chapo“ Guzmán zeigt viele unbestrittene Fakten, beispielsweise dessen
       fulminante Flucht durch einen Tunnel aus einem Hochsicherheitsgefängnis.
       Doch gerade die Mischung aus Realem und Fiktivem macht die Sache auch
       gefährlich. Denn längst haben solche medialen Inszenierungen gewissermaßen
       Wahrheiten geschaffen, obwohl ein Teil davon lediglich der fantasiereichen
       Interpretation umstrittener Erkenntnisse entspringt.
       
       ## Krieg gegen die Mafia
       
       So gilt es als Allgemeinplatz, dass der ehemalige Präsident Felipe Calderón
       mit dem Sinaloa-Kartell kooperiert hat, um mit dem „Krieg gegen die Mafia“
       gegnerische Organisationen auszuschalten. Diese These wird zwar auch von
       einigen investigativen Journalisten und Wissenschaftlern vertreten.
       Juristisch scheinen die Vorwürfe aber bislang nicht stichhaltig zu sein.
       
       Zavala räumt zu Recht mit dem Glamour auf, mit den wilden Partys, den
       schicken SUVs, den Goldkettchen. Tatsächlich leben die meisten Söldner der
       Mafia im Elend und mit ständiger Todesangst. Der Autor kritisiert zudem den
       Gedanken, hinter der Gewalt steckten nur international agierende kriminelle
       Unternehmen, die mit ihrem Terror ganze Landstriche kontrollieren.
       
       Tatsächlich sind die Gründe für die brutalen mexikanischen Verhältnisse zu
       vielschichtig, um sie auf Bandenkriege um Einflussgebiete oder Kämpfe mit
       Sicherheitskräften zu reduzieren. Menschen sterben, weil zwei Dörfer um ein
       Stück Land streiten. Oder weil einige von einem Bergbauprojekt profitieren,
       während andere leer ausgehen und zuschauen müssen, wie ihr Wasser verseucht
       wird. Oder weil Frauen patriarchaler Gewalt schutzlos ausgesetzt sind.
       Schnell werden diese Toten auch von uns Journalisten diffus als Opfer des
       „Drogenkriegs“ definiert.
       
       ## Gerechtigkeit und Versöhnung
       
       Seit einigen Wochen sucht die neu gewählte Regierung mit Vertretern der
       Zivilgesellschaft und Angehörigen von Opfern nach Wegen zur Befriedung des
       Landes. Es geht um Gerechtigkeit, Überwindung der Straflosigkeit,
       Übergangsjustiz und Versöhnung. Die Verfasstheit der Täter und die mediale
       Produktion von „Wahrheiten“ werden dabei auch eine Rolle spielen.
       
       Zavala hat dafür die richtigen Fragen gestellt. Möglicherweise ist das der
       Grund, warum er bis hin zur spanischen Tageszeitung El Pais durch viele
       Feuilletons gereicht wird. Seine Antworten sind jedoch wenig hilfreich.
       Trotz seiner Kritik an vereinfachten Wahrnehmungen kann er sich offenbar
       selbst nicht mit dem Gedanken abfinden, dass Gewaltverhältnisse
       komplizierter verlaufen.
       
       Anstelle des organisierten Verbrechens, dessen Existenz er negiert, sieht
       er „den Staat“ als den Täter. Dieser habe die Kriminellen völlig im Griff,
       Bandenkriege seien inszeniert, um kapitalistische Interessen durchzusetzen.
       Beispielsweise, um Menschen zur Flucht zu zwingen und deren Land für den
       Bergbau nutzen zu können.
       
       Damit summieren sich Zavalas Thesen zu den Verschwörungstheorien mancher
       Linker, die die komplexen Beziehungen zwischen Kriminellen, Politikern und
       der Bevölkerung ihrem manichäischen Weltbild anpassen wollen. Für den
       Friedensprozess sind solche Analysen schlicht untauglich.
       
       1 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf-Dieter Vogel
       
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