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       # taz.de -- Degrowth-Professor zu Wirtschaftssystem: „Müssen Freiheiten einschränken“
       
       > Für eine Gesellschaft ohne Wachstum muss das Wirtschaftssystem
       > grundlegend umgebaut werden, sagt der Politologe Ulrich Brand.
       
   IMG Bild: Hier muss sich etwas ändern: Containerterminal im Hamburger Hafen
       
       taz: Herr Brand, Sie propagieren eine Gesellschaft ohne
       Wirtschaftswachstum. Dahin kommen wir aber nur, wenn alle mitmachen. Ist
       das nicht ziemlich unrealistisch? 
       
       Ulrich Brand: Wenn man Degrowth so interpretiert, dass wir per se
       schrumpfen müssen, von allem weniger haben, dann vielleicht schon. Absurd
       wäre auch die Vorstellung, dass starke Wirtschaftskrisen und die Verarmung
       vieler Menschen etwas mit dem Projekt von Degrowth zu tun hätten. Für mich
       bedeutet Degrowth, zu sehen, dass unsere Gesellschaft in allen möglichen
       Bereichen, etwa Gesundheit, Kommunikation und Mobilität, kapitalistisch
       organisiert ist – und damit einem Expansionszwang unterworfen.
       
       Was wäre denn die Alternative? 
       
       Wir müssen uns fragen, wie wir die Bedürfnisse in all diesen Bereichen
       befriedigt kriegen, ohne das großen, privat-kapitalistischen Unternehmen zu
       überlassen. Wir wollen essen, aber keine Nahrungsmittelmultis, sondern
       ökologische und lokale Produzenten. Mobilität, aber nicht durch Konzerne
       organisiert. Dann würden wir auch mit weniger auskommen, weil uns keine
       Werbung ein zweites Auto einredet und keine Pharmaindustrie davon
       profitiert, wenn Krankheiten behandelt werden statt vorgebeugt. Degrowth
       würde anderen Formen der Wirtschaft Raum geben, öffentlichen Unternehmen,
       der solidarischen Ökonomie und so weiter.
       
       Also eine Wirtschaft ohne Märkte? 
       
       Märkte kann es durchaus geben. Natürlich sollen in Malmö und Berlin
       Produkte produziert und am Markt verkauft werden. Ich bin nicht gegen
       Privateigentum an Produktionsmitteln. Aber das Eigentum darf nicht so
       mächtig werden, dass es über Aktiengesellschaften nicht mehr rauskommt aus
       der Expansionslogik.
       
       Große Unternehmen wie Daimler und Siemens müssten also schließen. 
       
       Nein, aber sie müssten gesellschaftlich gesteuert werden. Private
       Investitionen müssten in einem längeren Prozess über ein paar Jahre
       gestoppt werden und diese Unternehmen in öffentlichen Besitz überführt.
       Erst wenn die Macht der Aktionäre gestoppt ist, wird es überhaupt möglich,
       dass eine Firma wie Daimler weniger produziert.
       
       Im Moment sieht es ja nicht so aus, als würden sich dafür viele Menschen
       einsetzen. Müssen die Umweltprobleme noch größer werden, damit sich etwas
       ändert? 
       
       Ich glaube nicht. Katastrophen dienen eher autoritären Regimen. Länder wie
       der Iran oder Ecuador sind existenziell durch den Klimawandel bedroht, der
       Iran könnte bald eine Wüste sein, und trotzdem tut sich nichts. Wir
       brauchen soziale Bewegungen, kulturellen Wandel, progressive Unternehmer –
       und wir brauchen Politik. Die Energiewende wurde von unten angestoßen und
       von der Politik aufgegriffen, beim Kohleausstieg zaudert sie. Auch in
       Universität und Bildung müsste sich einiges ändern.
       
       Nun sieht man ja Mobilisierung vor allem dort, wo Menschen ihre Interessen
       bedroht sehen, zum Beispiel, in Berlin in einer schönen Wohnung für wenig
       Miete zu leben, und nicht dort, wo es um Verzieht geht. 
       
       In Berlin geht es nicht um einen Luxuskampf, sondern für viele um
       existenzielle Probleme. Und der Kampf um die eigenen Interessen ist erst
       mal legitim. Man muss sich dann aber anschauen, inwieweit die Interessen
       gesellschaftlich tragbar sind. Die Interessen der Automobilarbeiter,
       weiterhin zu produzieren, sind kurzfristig legitim, langfristig nicht.
       Deshalb müssen sie am Umbau beteiligt werden.
       
       Welchen Sinn hat es, sich bei uns für Degrowth einzusetzen, wenn eine
       wachsende Mittelschicht im globalen Süden genau unseren Lebensstil will? 
       
       Erstens weil wir eine historische ökologische Schuld haben. Und weil die
       wohlhabenden Länder eher die Mittel dazu haben. Es hat ja einen Grund, dass
       die Energiewende von Deutschland ausgeht und nicht vom Kongo. Zweitens
       möchte ich dieses Bild anzweifeln, das man bei uns gerne verbreitet: Die da
       unten wollen alle so leben wie im Westen. Denn man muss sich fragen, welche
       Alternativen die Menschen dort haben. Indonesien ist durch die
       Palmölindustrie zum Wirtschaftswunder geworden. Aber für die Menschen dort
       bedeutet das doch Entrechtung und Enteignung! Wenn die Menschen in den
       Textilfabriken mit katastrophalen Umweltbedingungen Alternativen hätten,
       sinnvoll zu produzieren, würden sie sie ergreifen. Genau dafür müssen wir
       uns einsetzen.
       
       Bei uns müsste die Bevölkerung aber Freiheiten aufgeben, denn unseren
       Lebensstandard können wir uns global gesehen nicht leisten. 
       
       Genau, insbesondere wohlhabende Menschen müssten auf einiges verzichten.
       Wir können uns nicht leisten, SUVs zu fahren und dauernd zu fliegen. Dann
       geht die Freiheit auf Kosten anderer und der Umwelt. Der liberale
       Freiheitsbegriff tut so, als könnten alle frei sein. Aber das stimmt nicht.
       Im Moment sind die frei, die Geld haben. Wir müssen uns demokratisch Regeln
       setzen, die unsere Freiheiten bewusst beschränken. Bei Kinder- und
       Sklavenarbeit ist es ja einsichtig, die Freiheit der Unternehmer zu
       beschränken. Es geht also um Verbote oder hohe Steuern, auf Flugreisen und
       SUVs zum Beispiel. Aber auch in Infrastrukturen zu investieren, die den
       Menschen eine nachhaltige Lebensweise leichter machen, zum Beispiel aufs
       Auto zu verzichten.
       
       25 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ruth Fulterer
       
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