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       # taz.de -- Die Wahrheit: Im Wurmloch zum Lindwurm
       
       > Neue erhellende Erkundigungen im zeitlos dunklen Bayreuth während der
       > jetzt endenden Festspielzeit.
       
   IMG Bild: Der kleine grüne Hügel mit dem Festspielhaus war auch 2018 wieder Mittelpunkt des Sommertheaters
       
       Es ist ganz und gar übertrieben, zu behaupten, Richard Wagner dominiere
       Bayreuth. An jeder Ecke gedenkt man hier des Dichters Jean Paul, es gibt
       ein Franz-Liszt-Museum, man ehrt die Markgräfin Wilhelmine, und der
       Supermarkt ist sogar nach einer Oper von Vincenzo Bellini benannt: „Norma“.
       Das heißeste Asservat, welches die Stadt gerade bereithält, ist eine
       Oktavausgabe der Autos Sacramentales von Calderón aus dem Jahre 1655,
       welche auch das „Gran teatro del mundo“ enthält. Wer hätte diesen kleinen
       Schlingel von Buch nicht gern in seiner Bibliothek?
       
       Auch wer argwöhnt, das Publikum der Bayreuther Festspiele sei elitär, kann
       beruhigt werden; mit dem europäischen Hochadel und der internationalen
       Boheme, die vor dem Ersten Weltkrieg bei den Festspielen einander
       begegneten, haben die heutigen Besucher nur die Eintrittskarten gemein. Da
       man acht Jahre auf Karten wartet, kann sich jedermann in dieser Zeit das
       Geld zusammensparen. Man glaubt sich geradezu in Salzburg, denn man sieht
       „Je… der… mann …!“
       
       Bildung, Manieren und Eleganz sind heute eine weit bessere Investition als
       zu Zeiten des amerikanischen Ökonomen Thorstein Veblen, der 1899 seine
       „Theorie der feinen Leute“ veröffentlichte; damals wären Sie mit alldem bei
       einer Bayreuther Premiere gar nicht aufgefallen, heute sind Sie beinah die
       einzige Kraft. Als gebildeter, eleganter Mensch mit Manieren haben Sie
       heute ein uneinholbares Alleinstellungsmerkmal.
       
       ## Eingeborene in Tarnkappen
       
       Da niemand freiwillig nach Bayreuth fährt, hat auch die oberfränkische
       Stadt ein Alleinstellungsmerkmal: keine Touristen! Wenn Ihnen also
       Nibelungen in Tarnkappen, kurzen Hosen und weißen Socken entgegenkommen,
       sind das Eingeborene. Außer „Frrrängisch“ spricht man hier auch Preußisch,
       was das ewige „Hallo!“ erklärt, als befinde man sich nicht in Deutschland,
       sondern am Telefon.
       
       Im August ist Bayreuth deutsche Hauptstadt; München im Urlaub. Das
       Wichtigste in Bayreuth sind erstens die Würste, zweitens das Maiselbier,
       drittens das markgräfliche barocke Opernhaus, viertens meinetwegen Richard
       Wagner. Der Komponist hat nämlich auch hier gewohnt. Aus seinem Wohnhaus,
       Wahnfried genannt, ward jetzt ein Museum mit einer Krypta, in der die
       „Lohengrin“-Partitur aufgebahrt ist. Die Architektur dieses geistigen
       Untergeschosses hält die Waage zwischen Gruft und Volkshochschule.
       
       Auch ein Kino gibt es dort. Täglich spielt man den Modell-„Tristan“ von
       1983 mit René Kollo in der Titelrolle, Daniel Barenboim als Kapellmeister
       und Jean-Pierre Ponnelle als Regisseur und Ausstatter. Leider bricht der
       Vorführer die Vorführung immer kurz vor Aktschluss ab. Was Stalin mit einem
       solchen Filmvorführer gemacht hätte, kann man sich auch denken, wenn man
       die britische Filmkomödie „Der innere Kreis“ nicht gesehen haben sollte.
       Zur Beantwortung einfacher wissenschaftlicher Anfragen ist das
       Wahnfried-Museum ebenfalls außerstande.
       
       Das Festspielhaus selbst ist ein Holzhaus mit Klappsitzen. Eine Holzblende
       verdeckt das Orchester. Als Richard Wagner die ersten Inszenierungen hier
       sah, sagte er: „Schade, dass ich nicht auch die verdeckte Bühne erfunden
       habe!“
       
       ## Mitten im Krieg
       
       Die Dauer eines Werkes wie des „Ring des Nibelungen“ beträgt lediglich 16
       Stunden. In Wagners „Ring“ werden Sie in einem Raum-Zeit-Diskontinuum
       direkt in die Welt unserer Ahnen katapultiert. Wenn der Vorhang sich zum
       ersten Aufzug der „Walküre“ hebt und Siegmund durch den Wald zu einer Hütte
       flieht, sind Sie mitten in jenem kriegerischen Leben angekommen, dessen
       Erinnerung man Ihnen bei Ihrer Erziehung mit allen Mitteln austreiben
       wollte: „Zum Kampf kies ich den Tag: / für Tote zahlst du mir Zoll.“
       
       So war einst unsere germanische Welt, so ist sie, und so wird sie sein.
       Wenige kammermusikalische Töne aus der Szene zwischen Hunding, Sieglinde
       und Siegmund genügen. Sofort wissen Sie, Sie sind wieder dort, von wo man
       Sie vor über tausend Jahren vertrieben hat.
       
       Es gefällt es Ihnen nicht im Wald bei den Kämpfern? Glauben Sie mir, Sie
       sind das, es ist in Ihnen!
       
       28 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephan Reimertz
       
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