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       # taz.de -- Debatte Braindrain in Südosteuropa: Arme bilden für Reiche aus
       
       > Die Jungen gehen, die Alten bleiben. Die Migration aus dem Südosten
       > Europas in den Norden ist ein echtes Problem für die Zurückbleibenden.
       
   IMG Bild: Europa igelt sich ein: Ein Grenzzaun, hier in Slowenien
       
       Waren es vor Jahren noch die ungelernten Arbeiter aus dem Kosovo, die
       Bauernsöhne aus Mazedonien oder verzweifelte Angehörige der Roma-Minderheit
       in Serbien, so sind es heute vor allen die gut ausgebildeten junge Menschen
       aus den Balkanländern, die sich auf den Weg nach Zentraleuropa machen.
       Zehntausende von [1][Armutsflüchtlingen vom Balkan] schreckten vor sechs
       Jahren – noch vor dem Flüchtlingsdrama aus Nahost und Afrika – die deutsche
       Politik auf. Mit der Maßnahme, die Staaten des Westbalkan zu sicheren
       Herkunftsländern zu erklären, wurde die Armutswanderung zwar zunächst
       gestoppt. Politisches Asyl zu erhalten ist für diese Leute seither nicht
       mehr möglich.
       
       Natürlich sollte es zu den elementarsten Rechten der Menschen gehören, frei
       reisen und auch alle Chancen wahrnehmen zu können, ein besseres Leben
       anzustreben. Die jetzt endlich ernsthaft geführte Diskussion über ein
       Einwanderungsgesetz oder das von Arbeitsminister Hubertus Heil
       vorgeschlagene Fachkräftezuwanderungsgesetz weist immerhin in eine richtige
       Richtung. Die Prozeduren sollen vereinfacht werden, junge Menschen vor
       allem aus dem Raum Südosteuropa sollen sich angesprochen fühlen. Auch
       Gesundheitsminister Jens Spahn will junge Menschen aus diesem Raum als
       Pflegekräfte und für das Gesundheitswesen insgesamt gewinnen. Vor allem das
       Kosovo mit der jüngsten Bevölkerung Europas und der höchsten
       Arbeitslosigkeit von 60 Prozent steht im Fokus seiner Überlegungen.
       
       Die schon seit Jahren auf dem Tisch liegenden Vorschläge, an den
       Universitäten im Kosovo gezielt mit Sprachunterricht ergänzte
       Ausbildungsgänge einzurichten, die auf die Bedürfnisse der deutschen
       Industrie und Gesellschaft zugeschnitten sind ( so in den Bereichen Medizin
       und Technik), sind zwar von der Politik weitgehend ignoriert worden. Vor
       allem konservative Kreise haben es geschafft, den Kosovaren durch
       Visaregelungen die Reisefreiheit zu beschneiden. Jetzt könnte aber die
       gesamte Gesellschaft Kosovos profitieren. Es könnte eine Win-win-Situation
       für beide Seiten geschaffen werden.
       
       Der Fachkräftemangel in Deutschland hat sich bis in das letzte Dorf auf dem
       Balkan herumgesprochen. Zwar ist die aus „niedrigen wirtschaftlichen
       Beweggründen“ hervorgehende Wanderungsbewegung heute kaum mehr relevant,
       doch verlassen trotzdem jährlich Zehntausende von Menschen die betreffenden
       Regionen. Es handelt sich nicht mehr um die Ärmsten der Armen, sondern
       zumeist um junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte, die nun ihr Glück in
       „Europa“ suchen. Vor allem auf dem Gebiet der Medizin und der Altenpflege
       stehen ihre Chancen schon jetzt trotz der Gesetzeshürden gut, in
       Deutschland angenommen zu werden.
       
       ## Nach der Schule Deutschunterricht
       
       Immer mehr intelligente und beruflich ausgebildete Menschen machen sich in
       Richtung Norden auf den Weg. Wenn eine Deutsch sprechende Tierpflegerin
       nach Baden-Württemberg verschwindet, um nach kurzer Zusatzausbildung in der
       Altenpflege zu arbeiten, ist ein Zeichen gesetzt. Wer ausgebildet ist und
       bleiben will, wird schon mitleidig angesehen. Schon in frühem Kindesalter
       wird der Nachwuchs auf die Auswanderung vorbereitet: Neben dem Unterricht
       in normalen Schulen werden nachmittags private Sprachenschulen in Anspruch
       genommen.
       
       Wenn zudem das Personal der einheimischen Krankenhäuser in Bosnien und
       Herzegowina und Serbien dramatisch ausgedünnt wird, wenn das ohnehin durch
       Finanzmangel gebeutelte staatliche Gesundheitssystem deshalb
       zusammenbricht, dann wird der Braindrain zu einem echten Problem für die
       zurückgelassene Gesellschaft. Die Jungen gehen, die Alten bleiben, die
       betreffenden Länder fallen weiter zurück. Es ist ja die Verzweiflung über
       die Stagnation der eigenen Gesellschaft, die zu dieser Entwicklung geführt
       hat. Hunderttausende vor allem ausgebildete Bürger haben während und nach
       den Kriegen der 90er Jahre ihre Länder verlassen. Auch das war ein
       Braindrain, der die Entwicklung der politischen Systeme negativ beeinflusst
       hat.
       
       Die politischen Parteien auf dem Westbalkan haben seither – bis auf wenige
       Ausnahmen – nicht die Entwicklung der Gesellschaft im Blick, sondern
       bedienen lediglich die sie stützende Klientel. Sie stellen sich als
       Verteidiger nationaler Interessen im Einklang mit der vorherrschenden
       Religion dar – ganz gleich, ob es sich um Katholizismus, um Orthodoxie oder
       den Islam handelt. Die so entstandenen Herrschaftssysteme achten mit
       Repression und Propaganda darauf, dass Bürgerbewegungen und rational
       denkende Politiker von vornherein chancenlos bleiben. Wenn sogar ein hoher
       Repräsentant einer nationalistischen kroatischen Regionalpartei in Bosnien
       und Herzegowina gegenüber dem Autor zugibt, dass er seine Kinder nur auf
       Eliteschulen schickt, um ihnen ein Leben im Ausland zu ermöglichen, führt
       sich das System selbst ad absurdum.
       
       Indem die Jugend ihr Heil in der Fremde sucht, werden diese
       Herrschaftsmechanismen noch gestärkt. Wenn jetzt also über ein
       Einwanderungsgesetz in Deutschland gesprochen wird, sollten die Folgen der
       Migrationsbewegung mit bedacht werden. Die Problematik des Braindrain
       bezeichnet das Wohlstandsgefälle in Europa. Die armen Länder bilden junge
       Menschen für die reichen Länder aus. Nur die reichen Länder profitieren
       davon. Das riecht nicht nur nach Imperialismus, das ist Imperialismus.
       
       Wenn man ein Einwanderungsgesetz diskutiert, muss auch an diesen
       Zusammenhang gedacht werden. Zumindest bei den Ausbildungskosten sind
       finanzielle Kompensationen angebracht. Aber die Diskussion darüber muss
       breiter angelegt werden und regionale Besonderheiten respektieren – so die
       Lage im Kosovo. Grundsätzlich kann es nicht das Ziel sein, die europäischen
       Gesellschaften des Südostens und Ostens intellektuell völlig auszudünnen
       und sie den religiösen Fanatikern und Nationalisten zu überlassen.
       
       29 Aug 2018
       
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